Siegfried Bemfeld
Sisyphos
oder
die Grenzen der Erziehung
I« K mrirtrr sriti glaube, daß seit langem, im fragwürdigen
II#»* *■ I» der Pädagogik keine wichtigere Erscheinung
>i v«’i » . lehnen war, öle diese Schrift, Übrigens 811 ck
! tu i illrin lütteren Ernst witzigere und vergnüg-
IuIhm# { WynA *n im Btrfimr Tagthlatt)* — Selten
«uni ikf schein har f o sicheren Grundlagen der Pad-
*g*giL •«* grundlick unterwuhlt worden, wie in dem
'«■i li*if*nd*n geistvollen Bucke, (Zekschr* f\ SexuaK
liitirfiffi hilft.) Natürlich, wesentlich notwendig.
^/* Of*(r*tch in: Df# neu* ErüiekungJ — Geistreiche
Sir lilicli Leit und anmutige Ironie. (Ostseeseitung.)
Iriicrntiinmaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig / W i e d / Zürich
Dr. Siegfried Bernfeld
.
■ ■
■■ ■■
BERNFELD
SISYPHOS
Sisyphos
oder
die Grenzen der Erziehung
von
Dr. Siegfried Bernfeld
2. Auflage
1928
Internationaler Psychoanalytischer Verlaß
Leipzig / Wien / Zürich
ZWEITE AUFLAGE (3-— 4. TAUSEND)
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DIE
DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1925 BY „INTERNATIO¬
NALER PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG, GES. M. B. HWIEN
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die Grenzen der Erziehung sind seit dem Erscheinen
dieses Buches den Pädagogen recht deutlich sichtbar geworden.
Was vor drei Jahren (und gar vor vier, als dies Rudi
geschrieben, vor fünf und sechs, als sein Inhalt den Hörern
eines Pädagogiums vorgetragen wurde) ketzerisch klang,
ist heute ein vielgebrauchtes Schlagwort. Wenn der Verlag
nun eine neue Auflage für notwendig hält, so sdieint sie
für die pädagogische Literatur um so mehr überllüssig zu sein,
als die Diktion dieses Buches durdi die Situation bestimmt
ist, in der ich es dachte und schrieb: ln dem Gefühl, völlig
unzeitgemäße Dinge zu sagen, ohne Hoffnung, daß sie in
einem breiteren Leserkreis Glauben finden könnten, schien
mir ein Buch, das übertreibt und überspitzt, geeignet,
wenigstens einige Lacher auf seine Seite zu bringen, etwas
Zweifel zu säen, faule Idealisten zu erschüttern. Da dies Buch
nun vergriffen ist - hätte sein Autor nidit die seltene
Chance, statt einer neuen Auflage die Bekanntmachung
in che Welt zu schicken: „Der kluge Sisyphos ist durdi
die Lektüre des ihm gewidmeten Pamphlets zur besseren
Einsicht gelangt und hat seine idealistische Beschäftigung
aufgegeben; daher erscheint statt der zweiten Auflage jenes
erfolgreichen Büchleins die erste des nunmehr nötigen
praktisdien Handbuches: Hekuba - oder die bescheidene
Kind erbe treu ung?”
Aber - leider Jene wirkliche eingetretene Sinnes¬
änderung der pädagogischen öffentlichen Meinung ist nicht im
mindesten von meinem Buch bewirkt. Zeidlers undGiesebredits
ticher über die Grenzen der Pädagogik (erschienen bald
nadi dem Sisyphos) und vor oder hinter ihnen Kriech und
Lut sind Anreger und Träger dieser Linkehr. Und mein
Buch, bei weitem nicht überflüssig geworden, hat nun erst
seinen Platz und seine Aufgabe. Was in ihm als Grenze
der Erziehung ausführlich dargelegt wird, erscheint meinen
sehr geschätzten Nachbarn nach wie vor als unendliche
M eltenflur, in der man pädagogisch nadi Belieben lust¬
wandeln kann. Die Erziehbarkeit des Kindes ist beschränkt;
die Erziehfähigkeit des Erziehers ist es gleichfalls — diese
beiden Grenzen erwähne ich in meinem Buche nur eben,
weil sie seit je gekannt, wenn auch nicht immer beachtet
sind. Ausschließlich ihrer Erörterung aber widmen sich jene
Schriften und Diskussionen. Da es wirkliche Grenzen sind,
muß sich die Erziehungswissenschaft ihrer Erforschung
widmen; da sie die weithin sichtbaren sind, ist ihre neuerliche
Markierung aber nicht so dringlich als die Aufdeckung der,
auch heute noch unsichtbaren, dritten: der gesellschaftlidien.
Nicht die Pädagogik baut das Erziehung«wesen, sondern
die Politik. Nicht Ethik und Philosophie bestimmt das Ziel
der Erziehung nach allgemein gültigen Wertungen, sondern
die herrschende Klasse nach ihren Machtzielen; die.Pädagogik
verschleiert bloß diesen höchst häßlichen Vorgang mit
einem schönen Gespinst von Idealen. Nicht die Erziehung
verwirklicht das Mensdiheitsideal vom Menschen, sondern
die Umwälzung der heutigen Gesellschaft schafft den Raum
für einen höheren Mensdiheifstyp — die Erziehung, die diese
gescllsdiaftlidie Grenze ihres Wirkens nicht sieht, hilf! mit,
gerade den Menschenschlag zu verewigen, den ihre philo-
Unme^L^lrrfluL 018 UnerZ ° ge " en ’ * ,S »"bildeten, als
„Silyphos” t**. de '' erSte ’ dCr diCS behaUPte,i aber —
14 sehe ' . er2C,t ,m P“ da Bogis*cn Schrifttum - soweit
it^ ei,; sT T lil,d '' ^ diCSe Beha Wen ohne
auf i. , 11 r. d * wanken wiederholt, und sie fundiert eben
und p ' SS * ns4aft > weldle die Erziehbarkeit des Kindes
we rziehfähigkeit des Erziehers sehr beträchtlich zu
'ermssem imstande ist und somit die letzte Illusion der
agogtk wird, aui die Psychologie Freuds. Wenn ith heute
man dies richtiger sagen zu können vermeine und
wenn die neue Situation, da ja nunmehr ein Teil der
Pädagogik clurdi sich selbst in r
erlauben würde, das zent.e Pro iT " * ^
rierrnri .md - ßuiem scharfer arminien-
!st d , weniger spöttisch aggressiv zu umwickeln, so
' , d " erSt red,t *“““ #<*4 nötig. Kleine Ver-
esserungen wurden ihm nicht viel helfen, und die große
<l.'n AuXr t! ’ die ihm n0t tUt ’ kann ihm nid « «eben:
, ^ SbaU 2U e,ncr Psydiologisdt und soziologisch fundierten
Uzieliungswissenschaft, die in ihrem Gegensatz zur, nach 2
als n„c . kanntel1 ’ geisteswissenschaftlichen Pädagogik
Gesinnuird 6 " h* 8111 '**’ "" Gegcnsall! zu der idealistischen
Stlsdie bezelch' 8816 " 0dl gHlti8e " l>ada gogik als materlall-
e “'-«sehnet werden müßte.
I
VON DER PÄDAGOGIK
Den weimarischen Untcrriditsminister Herrn v. Wyden-
brudi zu tätiger Hilfe für Fröbcls Kindergarten zu gewinnen,
bemühte sich Frau v. Marenholz-Bülow in Tisdigesprädien
die Einwände beredt zu zerstreuen, die dem Minister bisher
zugetragen worden waren. Sie sprach von der Freiheit, zu
der die Menschen durdi Fröbels Methode erzogen würden.
Der Minister schien geneigt, solche Möglichkeit zu glauben,
aber die Freiheit selbst schien ihm nicht wünschensw ert, das
Wort sogar schon ist gefährlich. - Es war im Jahre 1850. -
Frau v. Marenholz beeilte sich zu versichern, es sei nur
die innere Freiheit, die sie meine, die Freiheit der eigenen
Entfaltung. Ich glaube nidit, daß Frobels Methode diese
allgemein erzielen könne, war dagegen Herrn v. Wyden-
bruchs Meinung, denn die Menschen werden immer Men¬
schen bleiben, das heißt unvollkommene Wesen. Immerhin
w'ürde er zu gegebener Zelt nicht versäumen, das Mögliche
zur Förderung der Methode zu tun. Vorerst aber müsse
Ruhe und Ordnung in den Staaten geschaffen sein.’
Diese Geschichte enthält so viele Punkte, die mir für die
Erörterungen, die in diesem Buche bevorstchen, wichtig er-
*) Anekdotisch verkürzt nach Marenholz, Erinnerungen an Fröbel.
Bernfeld, Sisyphos l
1
scheinen, in sidi verdichtet, daß sie ihres Symbolwertes
wegen wohl geeignet ist, sie einzuleiten. Sie führt uns von
verschiedenen Seiten her an jene Gesichtspunkte, die nach
meiner Meinung im Zentrum stehen sollten, wenn die Frage
nach den Grenzen der Erziehung erhoben wird. Da ist
zunädist die nadisiditige Skepsis des erfahrenen Staats¬
mannes gegenüber den Versprechungen der Pädagogik. (Er
ist freundlidi, vielleicht nicht nur weil eine Dame und
Baronin ihm Fröbels wunderliche Ideen vermittelt, sondern
weil diese Ziele selbst seine Sympathie haben, mindestens
weil sie der ganzen Menschheit Sympathien haben, und,
könnte er nidit mitfühlen, er sich selbst verdächtig oder
verächtlich ersdicinen müßte. So bleibt ihm unbewußt, daß
er im Grunde diese Sympathien nicht teilt, oder er hütet
sich, seinen Widerstand gegen des edlen Fröbel Ziele und
Ideale zu verraten. Bei Diplomaten kann man das nie sicher
wissen. Andere Mensdien werden wirklich fühlen: Es wäre
schön, aber -. Der Minister glaubt nidit an die Möglichkeit
der Verwirklichung dieses an skh — vielleicht — so Schönen
und Wünsdienswerten. Zu gut kennt er die endlose Kette
unüberwindlicher Schwierigkeiten, die der bescheidensten
Veränderung an menschlidien Einrichtungen und Beziehungen
entgegen steht. Er kennt die undurchdringliche Kompliziert¬
heit der Realität. Seine Erfahrungen und die Geschichte
haben ihn gelehrt, mit der Tatsache einer grotesken Dis¬
krepanz zwischen Leistung und Erfolg in allen menschlichen
Dingen zu rechnen. Aber hier scheint ihm der Bezug ver¬
kehrt worden zu sein. Er weiß, daß ungeheure, andauernde,
aufreibende Arbeitsleistung im glücklichen Fall minimalen
Erfolgseffekt zeitigt; er kann nicht glauben, daß ein wenig
Kosclied und ein paar Spielgaben Mensdiennatur und -ein-
richtung von Grund auf Umstürzen werden. Ich überschätze
wahrscheinlich den historischen Herrn v. Wydenbrudi. Aber
es geht nicht um ihn und nicht um das Jahr 1S50, sondern
darum, daß in ihm die Einstellung der nidit pädagogisdien
Welt, audi der heutigen, zu der Pädagogik und den Päda¬
gogen symbolisch gekennzcidinet ist. Nadisiditigkeit gegen¬
über ihren Idealen - es wäre schön - und entsdiiedener
kalter Unglaube gegenüber ihren Programmen, Mitteln,
Versprechungen: das ist die Haltung aller, der Gedanken¬
losen wie der Nachdenklichen, zur Pädagogik. Ausgenommen
sind im wesentlidien nur die Pädagogen selbst.
Der Leser wird leidit geneigt sein, diese Behauptung sehr
übertrieben zu finden, und könnte darauf hinweisen, daß die
Erziehung, nadi dem Kriege vielleicht noch mehr als früher,
sehr weite Schichten der Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt, daß
jede Erziehungsfrage gewiß sein kann, teilnehmende Kreise
zu interessieren, die weit davon entfernt sind, beruflich an
sie gebunden zu sein, ja daß sdiließlidi in wenigen Grund¬
sätzen soldic Übereinstimmung herrscht, wie darin, daß zahl¬
lose Mißstände der Gegenwart, das Schicksal der Zukunft
nur durdi Erziehung verändert werden können. Dieses
Interesse, das in einem gewissen Maß sicherlich besteht,
sollte nidit überschätzt werden. Es wirken hier zwei Fak¬
toren mit, die den Tatbestand zu verschleiern vermögen.
Ein großes Kontingent der Nichtpädagogen, die an der
Pädagogik interessiert sind, stellen die Eltern. Sie haben oft
Grund, mit der Entwicklung ihrer Kinder unzufrieden zu
sein; sie befürchten, ihre Kinder könnten mißraten, und
ihre Sorge läßt sie Umschau halten nach Anweisungen, was
sie zu tun haben, nach Diagnose und Prognose, wie sie das
Verhalten ihrer Kinder zu bewerten, was sie von ihrer Zu¬
kunft zu erwarten haben. Die erziehende Funktion der
Familie ist allerorten in Frage gestellt, die pädagogischen
Hausmittel, mit denen die Großeltern sich zu behelfen wußten,
scheinen nidit mehr zu wirken, wenigstens haben sie das
I*
3
meiste von ihrer Autorität und Geltung verloren, die Un¬
sicherheit in allen Wert- und Gesellschaftsfragen nimmt den
Eltern den Mut, ihren eigenen Willen rücksichtslos durdi-
zusetzen, Schuldgefühle und Feindseligkeit gegenüber den
Kindern und der Familie, der wirtschaftlichen Not, der
seelischen Beengtheit, die sie im Gefolge haben, erzeugen
den Wunsch, sich zu rechtfertigen, eine erprobte Erziehungs¬
lehre zu verwenden, die, w enn sie schon nicht zum gewünsditen
Resultat führen mag, dodi erlaubt, sich zu sagen, man habe
das Mögliche getan. Diese Situation erzeugt allerdings ein
beträchtliches Interesse an der Erziehung. Aber ich habe,
nicht den Eindruck, daß es sich zu einer Schätzung der
Pädagogik verdichtet hätte. Im Gegenteil sind Anzeichen
genug vorhanden, die eine gewisse Ermüdung, Enttäuschung
auch dieser natürlichen Interessenten, der Eltern, für morgen
schon prophezeien lassen. Denn die Pädagogik hält nicht,
was man sich von ihr verspricht. Sie gibt keine klaren, ein¬
deutigen, konkreten Anweisungen, ihre Mittel sind selten
wirklich erfolgskher, ihre Prognose oft falsdi, nie gewiß,
immer in eine späte, unabsehbare Zukunft weisend. Wenn
bei dieser Lage nicht ein rapider Abfall des Interesses
bemerklich wird, so mag dies vor allem daher kommen, daß
für jeden Interessenten, der durch Enttäuschung - oder da¬
durch, daß die Kinder aus den Sorgenjahren entwachsen - von
der Pädagogik abfällt, ihr ein neuer hinzuwächst, der in die
Elternsituation eben eingetreten ist. Aber diese Lage verhindert
zu ihrem Teil, daß die Not und das Interesse sich zur vollen
Schätzung der Pädagogik, zur Anerkennung ihrer Autorität,
zur Befolgung ihrer Vorschriften und zur sozialen Hochschätzung
ihrer Vertreter entwickelt. Sie reicht nur hin, das wirklidie
Maß von Skepsis und Geringschätzung zu verschleiern.
Ein zweiter Umstand, der den in des Herrn v. W. Haltung
symbolisierten Tatbestand verdunkelt, ist vielleicht noch
4
viditiger, aber eben deshalb wird er uns später nodi aus-
führlidier beschäftigen. Hier sei er nur eben angedeutet. Das
Schulwesen und die Erziehungseinrichtungen sind veraltet,
sie bedürfen der Erneuerung. Die in den letzten Jahren so
rasdi verwandelten politischen, sozialen, wirtschaftlichen Zu¬
stände fordern vom Erziehungsapparat der Gesellschaft
energisdiere Anpassung als in Zeiten ruhigerer Entwicklung
genügend erscheinen würde. Kräfte genug sind am Werk,
die diese Reformen verhindern wollen; so müssen die Vor¬
wärtsdrängenden kämpfen und als Hilfe für ihren Kampf
öffentliches Interesse erringen. Aber audi dieses Interesse
enthält keinerlei Schätzung der Kampfobjekte in sidi. Man
kann die ganze Pädagogik für recht unnütz, ihre Ziele für
unpraktisch, ihre Mittel für unbraudibar halten und sidi
dennoch für den Kampf gegen das Gymnasium ereifern, weil
man dieses als schädlich, als altmodisch, als wichtigen heutigen
Bedürfnissen abträglich erkannt hat. Und das öffentliche
Interesse am Erziehungswesen reicht tatsächlich nur so weit,
als es gilt, schädliche, überffüssige Relikta in vielleidit nütz¬
liche, aber in vor allem unschädliche neue Formen zu ver¬
wandeln. Mit Bejahung der Ziele der Pädagogik, mit Glauben
an ihre Mittel, mit hoher Wertung ihrer Tätigkeit und
ihrer Menschen hat dies Interesse nichts zu tun.
Daß den Pädagogen diese Situation nicht voll gegenständ¬
lich werden will, daß sie sich und ihre Tätigkeit ernst, wichtig
nehmen, ja daß sie sie überschätzen, wie die Wydenbruchs
finden, wäre nidit allein verständlich, sondern unbedenklich.
Man dürfte ihnen so gut wie Metallarbeitern, Schreber¬
gärtnern, Ärzten gönnen, daß sie ihre tüchtige Arbeit höher
schätzen, als jede andere gleich tüditige Arbeit. W ir über¬
schätzen, was wir lieben, und finden, daß der andere seine
Liebe überschätze. Bei den Pädagogen handelt es sidi aber
nicht um diese selbstverständliche Haltung. Ihre Selbstsdiätzung
5
hat Formen und vor allem, sie hat Inhalte, die aufregend
sind. Ist es wahr, was die Baronin in Fröbels Namen ver¬
spricht? Das muß festgestellt, das muß entschieden sein.
Hier handelt es sidi um keine Kleinigkeit. Da wird die Er¬
lösung der Menschheit versprochen un d hier sitzen die
Herren v. W., ladieln kühl und verhindern die versprodiene
Erlösung. Das ist kein Scherz. Und das muß doch entsdieid-
bar sein. Hat Fröbel recht? Nidit ob seine Ideen schön und
wünschenswert sind, sondern ob seine Behauptung wahr ist,
daß sie realisierbar seien, das ist die Frage. Und das wenig¬
stens müßte geklärt werden, ob sie überhaupt entscheidbar
ist. Denn Fröbels Wahrheit erwiese den skeptischen Minister
nicht mehr als klugen, gewandten Empiriker, sondern als
den Feind. Hat der Minister aber recht, sind des Fröbels
Versprechungen falsch, übertrieben, demnach seine, der Päda¬
gogik, Lehre unwahr, so folgt daraus nidit, daß die Päda¬
gogen sich besdieiden müßten, widrigenfalls sie dein Fluch
der Lädierlidikeit verfielen, sondern die Pädagogik als
Ganzes hätte sich ein Revisionswerk gefallen zu lassen, das
einem hodinotpeinlidien Prozesse ähnlidi wäre. Sie ist im
Verdacht, ungeheueren Aufwand an Kraft, Zeit, Geld, an
Kinderglück und Elternsorge sinnlos zu vertun. Die Mög¬
lichkeit zeigt sidi an: die Pädagogik verhindert vielleicht die
Zukunft, die sie verspricht.
Diese Möglichkeit enthält einen schweren Vorwurf gegen
die Pädagogik. Soll sic, da er einmal ausgesprochen ist, ganz
und gar von ihm freigesprochen werden können, so muß
die Untersuchung sehr streng geführt werden. Es ist im
Interesse der Pädagogik selbst, daß die Untersudiung par¬
teiisch, mit Voreingenommenheit gegen sie geführt werde,
denn was dann nach solcher Untersudiung zu ihren Gunsten
ausgesprochen wird, das ist es dann um so sicherer und
gewisser. Idi werde mir daher erlauben, etwas von der skep-
6
tisdien, ironischen, ja feindseligen Stimmung gegen die Päda¬
gogik, das hinter jenen pessimistisdien Worten des Ministers
steht, in der vorliegenden Untersuchung festzuhalten. Aber
es wäre nidit nützlidi, sidi dieser Stimmung etwa auszuliefern.
Nidit nur der Grundverdadit aller Niditpädagogen kommt
in jenem Gesprädi zum Ausdruck; sondern diese selbst ver¬
raten sidi in ihm als nidit minder verdächtig. Herr von
Wydenbrudi glaubt nidit an die Fröbelsdie Methode. Wenn
er aber an sie glaubte, würde er sie verbieten, denn ihre
Ziele sind gefährlich, sie sind Revolution. Man hat eine
Zeitlang Fröbels Methode verboten; man hat sie später
wieder gestattet, ja man hat sie gefördert. Offenbar erwies
sich in diesem Fall Wydenbrudis Skepsis als berechtigt. Aber
wie, wenn sie es nidit wäre ? Wenn wirklidi die Wyden-
brudis schuld daran sind, daß die großen und ewigen Ziele
nicht erfüllt sind bis heute? Wenn die Mensdien ein für
allemal sind, was sie sind, nur weil man sie verhindert, etwas
Besseres zu werden? Die Pädagogik behauptet es. Die Ent¬
scheidung ist dringend. Und audi gegen die Wydenbruchs
ist Voreingenommenheit am Platz. Merkwürdig bleibt nur,
daß die Entsdieidung nidit längst schon getroffen ist. Daß
in dieser gewiß wichtigen Frage nodi immer Vorwurf, Ver¬
dacht, Unsidierheit möglidi ist. Man vergegenwärtige sidi die
Medizin in der Situation der Pädagogik. Einer verspricht, die
Menschheit vom Krebs zu heilen. Sogleidi wird geprüft und
geforsdit. Nidit immer ist sogleich ein Entscheid gefunden.
Aber ein umfangreicher wissenschattlidier, gesellsdiaftlidier
Apparat dient dem Zweck, hier zu entscheiden. Er hat gesell-
sdiaflliche Autorität für seine Urteile. Kein Wydenbrudi
kann sagen: „Es w r äre schön - aber ich glaube es nicht.”
Hier ist eine legitime Instanz, die ihn in seine Grenzen
weist: die Wissensdiaft Medizin. Und wo die bestehende
Ordnung, eben jene, die von den Wydenbruchs geschützt wird,
7
der V erwirklidiung dieser Entscheidung sich entgegensetzt,
also etwa dem gefundenen Heilmittel sein hoher Preis, dort
'vird diese Tatsadie den Gegnern dieser Ordnung zum
Argument, Motiv, zur Idee. Der Pädagogik fehlt diese
legitime Instanz. Sie ist nicht anders als in den ersten,
tastenden und undeutlichen Ansätzen vorhanden. Der Ent¬
wicklung einer Erziehungswissenschaft stehen starke Kräfte
entgegen. Es fehlt nodi beinahe ihr BegrifT, gewiß die all¬
gemeine Bereitschaft, in Erziehungsdingen wissenschaftlich zu
denken. Die Frage, welches die Grenzen der Erziehung
sind, ob die Fröbels, ob die Wydenbrudis recht haben,
ist aber eine wissenschaftliche, kann nur wissenschaftlich ent-
sdueden werden. Man kann der Erziehung Grenzen setzen,
\Vydenbrudi tut es; diese ihr gesetzte Grenze ist aber nicht
i re; man kann ihr Grenzen wünschen, oder auch keine
wünschen, Fröbel tut es; und dennoch hat sie ihre, die viel-
leidit ganz andere als diese gewünschten sind. Es handelt
sidi um eine Frage des Tatbestandes, von allen Zielen, Wün¬
schen und Absichten unabhängig.
Unter allen gesells*a£lH*en, kulturellen Tätigkeiten ent¬
behrt fast allein die Pädagogik dieser Tatbestands-Gesinnung:
der CV issensdiaillidikeit. Sie steht beinahe auf der Entwidt-
btngsstufe, welche die Medizin inne hatte, als Heilkunst und
e. tussensdiaft voneinander unabhängig bestanden, ja als
d.e Heüwissens*aft nodt nicht erfanden war. Au* damals
wurde Heilverfahren geübt, au* damals wurde sogar geheilt.
Denn m Urzeiten rekht das Heilen zurück: ir g end ein Tun,
T u s Reak “ 0n d6S Mensthen auf absonderli*es,
merzhaftes, gefahrdrohendes Körperverhalten, das man*-
ma den Erfolg hatte, dies gefährliche Verhalten zu ver-
in das gewohnte zurüdtzuverwandeln. Aber die
* littel dieser primitiven, animistis*en Medizin hatten an si*
m*ts mit dem Heilerfolg zu tun. Sie waren aus irgend
8
r
welchen Motiven entstanden, durdi irgend welche Faktoren
determiniert und aus irgend welchen, aber jedenfalls aus
außerempirischen Gründen war mit ihnen der Glaube an
den Heilerfolg verknüpft. Mißerfolge verringerten nicht den
Glauben an das Mittel, sistierten nidit dessen Gebrauch;
denn es befriedigt, unabhängig von aller Empirie, die seeli¬
schen Bedürfnisse, aus denen es entstand, abergläubische
Vorstellungen etwa, religiöse Neigungen oder unbewußte
Schuldgefühle. Gewiß haben die Mittel, ihre Wahl, ihr Ge¬
brauch Ursachen; aber diese sind nicht der vorgebliche Zw eck:
die Krankheit zu heilen. So erscheint, um ein Beispiel zu
geben, in dem sich Medizin und Pädagogik nachbarlich
berühren, den meisten primitiven Völkern und den bäuer¬
lichen Schichten auch der kultiviertesten, das Zahnen der
Kinder als ein überaus bedenklidier und gefahrvoller Prozeß,
gegen dessen feindliche Gewalten das Kind zu schützen eine
dringende Aufgabe ist, und zahllose Riten werden ängstlidi
und sorgfältig eingehalten, wenn das Kind sidi dieser sdimerz-
lidien 1 eriode nähert. Es sind rcdit sonderbare darunter,
wie der Brauch, der von den Steiermärkern beriditet wird:
wenn das Kind zu zahnen beginnt, hat seine Mutter einer
lebenden Maus den Kopf abzubeißen und den abgebissenen
Mauskopf an einem Seidenfaden dem Kind um den Hals zu
binden. Die Wissenschaft hat uns gelehrt, daß das Zahnen
völlig ungefährlich und sein Verlauf von allen Mäuseschick-
salen unabhängig ist. War der Zweck des Ritus wirklich die
Sicherung des Kindes, so haben Tausende von Mäusen
gänzlich vergeblich Kopf und Leben gelassen. Und wer w 7 eiß
wie viele Heil- und Erziehungshancllungen, die wir harmlos
und hoffend heute nodi üben, zwar weniger auffällig, aber
ebenso zwecklos sind wie diese. Die Medizin entsteht als Formu¬
lierung, Prüfung, Modifikation solchen Tuns, bemüht das Tun
nadi seinem Zweck: der Heilung, zu rationalisieren; jede
9
Heilhandlung mit ihrem einzigen sinnvollen Zweck, der
Heilung, in Übereinstimmung zu bringen. Eine Handlung,
die diesen Zweck nicht erreidit oder fördert, gilt als falsch
und unriditig, als Aberglauben, wieviele andere Zwecke
immer sie befriedigen mag. Unsere heutige Medizin ist mit
jener animistischen verglidien, in hohem Grade rationalistisch,
zweck-rational. Unsere Gesellsdiaft ist es auf allen Gebieten
mehr als irgend eine frühere.
Die Erziehung aber gehört zu jenen ihrer Gebiete, die am
wenigsten weit und am wenigsten tief von diesem Ratio¬
nalisierungsprozeß ergriffen sind. Sie ist, nicht anders als das
Heilen, so alt wie die Menschheit, nodi älter sogar, denn
auch bei Tieren laufen gesellschaftliche Prozesse ab, die
nur als Erziehung zu deuten sind. Audi gelegentlidie
Reflexion und Formulierung - deskriptiv und normativ -
über dies oder jenes Faktum der Erziehung ist recht alt,
aber nur sehr allmählich wird solches Nachdenken umfang¬
reicher, tiefer, kohärenter. Und sehr spät und sehr unvoll¬
kommen gewinnen diese Reflexionen, die sich zu einer Päda¬
gogik ordnen, einen bestimmenden Einfluß auf die Erziehung.
Im europäisdien Kulturkreis beginnt die einigermaßen um¬
fassende Pädagogik in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr¬
hunderts, nadidem ihr Partialrellcxionen, de ratione studendi
der Hochschulen, des Elementarunterrichts, der Mutterschul,
der I ürstenerziehung, der Erziehung vornehmer Jünglinge
- was allein Lockes und Rousseaus Gedanken im Grunde
bezw ecken seit etlichen Jahrhunderten voraufgegangen \
und sie ist in der Gegenwart noch keineswegs am Ende
audi nur ihrer Extension angelangt.
Sinn und f unktion der Pädagogik ist die Rationalisierung
der Erziehung.
Aber gerade als Rationalisierungsinstanz ist sie in keim-
haftem Zustand jung, unentwickelt, unentfaltet, schwach. Ja,
10
etwas ist in ihrem Zustand, — infolge ihrer kurzen, aber
recht bedenklichen Gesdiidite - das die Rationalisierung
der Erziehung gerade durch die Pädagogik gefährdet.
Wollen wir die fortschreitende Rationalisierung Fortschritt
nennen, so vollzieht er sich in zwei Sdiritten. Der erste ist
die geistige Tat eines einzelnen Mannes; der zweite ist die
reale Veränderung des bisherigen Verhaltens von vielen, zahl¬
losen, der Idee nach von allen Menschen. Comenius erfand
das Bilderbuch; Millionen Lehrer, Mütter, Menschen ver¬
wendeten es anstatt des vorher 0 blichen. Die geistige Tat -
so geringfügig sie sein mag, so bedeutungslos gegenüber
anderen Taten — ist ihrer Struktur nadi eine solche. Sie
verlangt vom Täter den Mut, sich von einer hergebrachten
Ansdiauung zu befreien, und die Phantasie ein Neues zu
denken. Die Pädagogikleistung aber hat einen Bezug aut
gesellschaftliches Tun, auf Tun in der Gesellschaft wenigstens.
Der Täter muß daher nodi ein Drittes leisten: die An-
sdiauung, von der er sich befreit hat, muß unzweckmäßig
gewesen sein, die neue, die er erdadite, muß sidi als zweckmäßig
bewähren. Was immer der Zweck sei, einer muß hier sein,
denn man diditet nidit Pädagogik, sondern denkt sie. Nur
dann fügt sich seine Überwindung und seine Neuerung in
die Rationalisierungstendenz, die allem Cesellsdiaftlidien
innewohnt, gehört nur dann sensu strictu zur Pädagogik.
Womit wohlverstanden kein Wert gesetzt, sondern bloß
ein Kriterium für eine besdieidene Entscheidung gefunden
ist. Der erste Teil des Zweisdirittes ist individuelle geistige
Leistung. Die sie vollziehen, werden durch den Namen
der „großen Pädagogen” ausgezeidmet. Wir nennen
sic Padagogiker sdiledithin, denn groß sind sie aller-
meistens nidit gewesen, und die es waren, am wenigsten
als Padagogiker.
ln der Mathematik, in der Diditkunst ist die Figur mit
11
nllT n di '! dUe " C '’ Leistung gesdlloss “- ln der Erziehung
w 'djtiger, der erste oder
sind der Fortschritt. Der Pädagogiker" die G e^ h
srsr e i"t es ’ sii *■-*
nid« Ra«o ,• , UCS ’ S ° d “ kt " 868en das Übliche, nodt
nid« nationalisierte, gegen das Gewohnte seiner Zeit - es
■st seine Tragik oder Komödie, daß sein T ’.,
Gefolgschaft bedarf, um vollendet zu « J
seinem Fall die r ,, zu seln ' Ls sind alle in
lieber " Ungeduld - an^tf d ^ «
Kulturbewegung, die mitten in ihrem^Schtltt"
steht, in Gefahr umzufallen - f ri> . , schwankend
Vollendung des Fortschrittes? Macht "T beS ' lmmt die
und Leistung des Täters, übt er Herrschaft”"'"'’ Char ‘ Sma
er die Abschaffung des bisherigen die V ‘u“™ 1 "' 1
neuen Braudies. Oder was dasselbe I , rklldlun 8 des
Instanz muß sich seiner Leistung bemal"* Herrs<hafts -
seiner sie e,-zwingen. Es ist dies ein ha « 801 Und statt
Erfinckingen der Pädagogiker. Wo ..„.l" ''"’ S<hidtsal der
geschieht oder dem Wesen nach gar nicbt 80 '**'! daS nl<ht
findet die freiwillige Annahme durch ein , 8esdlehen kann ’
bald zu großen Gruppen und gigantischenZahl "*** ^ ^
mögen. Sie wird um so schneller sein, * e ** Vermehren
gestützt ist durdi Autorität - der RelL^ mehr das Neue
tiefer wirksam das Charisma des Pädagogiker« ~ ° der jC
schließlich abhängen vom Wesen seiner Leist u ^ ^ Vird
Ablehnung ganz einfach bereditigt, ob seine^ v ^ SCin( ‘
richtig, ob seine Leistung nützlich ist. Die ZusL Neue nmg
sind kompliziert und fein gegliedert. Ich brecheT*™ 86
denn schreibe idi weiter von ihnen, w ozu Interesse „ 7^
vielleicht vorhanden ist, stehe ich in einem WirhÜJ ^
Gefahren: entweder unerlaubt, läppisch zu simpfej7°°
12 Cren
oder in unverständlich konzentrierten Andeutungen zu
geheimnissen oder — sdilimmster Wirbel, in den es ziehen
will — allgemach am breiten Ufer der Soziologie der Erziehung
zu landen, von Forschern nodi kaum berührter Boden, auf
dem man nicht weiß, wie lange ein Entdeckungsstreifzug
dauert.
Es will nur betont sein, daß die Pädagogik ihre Funktion
noch weniger erfüllt hat, als nach ihrem heutigen Umfang
bereits anzunehmen wäre. Wir werden daraus die Frage
ziehen, was die Gründe hiefür sind. Wir werden sie zu aller¬
erst in der Pädagogik und ihren Schöpfern suchen. Denn
offenbar fehlt etwas an Macht, Autorität, Charisma oder
Wahrheit.
Man wird vielleicht finden, meine Argumentation sei schief.
Keineswegs bestehe eine ungewöhnlich große Kluft zwischen
Pädagogik und Erziehung. Audi diese habe, ein wenig lang¬
samer, ein wenig verwickelter als jene, „denn hart im Raume
stoßen sich die Dinge”, aber erfreulidi und unaufhörlidi im
letzten Jahrhundert Fortschritte gemacht und man wird sich
vielleicht erbieten, dies an der Geschichte des Schulwesens
zu beweisen. Darauf helfe ich mir und unserer Sache weiter,
indem ich zunächst auf Präzision in terminologischen Dingen
bestehe. Und zwar auf einer, die in theoria nidit im
geringsten fraglich ist, die jeder zugesteht, daß nämlich Unter¬
richt nicht dasselbe sei wie Erziehung und Unterrkhtslehre,
Didaktik, demnach nicht das gleiche wie Pädagogik. Völlig
unbestritten ist diese Untersdieidung. Ebenso völlig mi߬
achtet. Man spricht von Erziehung, man weiß, eiklärt, daß
Unterridit nur ein Teil von ihr sei, und bleibt des weiteren
ausschließlich bei seiner Erörterung, hat ihn allein vor
Augen. Ja, niemand wird zögern, im System der Pädagogik
nur einen eng abgemessenen Raum der Didaktik neben
vielen anderen, zum Teil wichtigeren, geräumiger unter-
13
zubringenden Disziplinen zuzuweisen, und dodi ist sie allein
bequem, luxuriös geradezu untergebradit und alles übrige
muß in einer winzigen, dunklen Kammer hinsicdien. Ich
gönne der Didaktik ihren Lebensstandard, idi will sie nidit
als unförmlichen Auswuchs an der kümmerlidien Mutter
Pädagogik beschimpfen, aber ich wünsdie deren gran¬
diose Entfaltung, so daß die Proportionen in ihrer
natürlidien SdiÖnheit gewahrt bleiben.
Dennoch ist der Hinweis auf die Didaktik dankenswert.
Ihre Beziehung zum Unterricht ist tatsächlich wesentlidi näher
dem Durdischnitt von Rationalisierung, den unsere Gesell¬
schaft erreicht hat, als die der übrigen Pädagogik. Und dieser
Gegensatz ist überaus Ichrreidi. Er ist höchst erstaunlich,
denn er widerspricht strikte einer Annahme, die weit-, bei¬
nahe allverbreitet und dennoch erkenntnisverhindernd ist.
Man, wir alle sind es, ist geneigt, den Ausbildungsgrad, die
erreichte Höhe einer Wissenschaft, Kunst oder Kunstfertig¬
keit in direkter Abhängigkeit von den Qualitäten der
Menschen zu denken, die sich ihr widmeten. Nur unwesent¬
lich korrigiert ist solche Neigung durch ein vages Zuge¬
ständnis von gewissen fördernden und hemmenden Ein¬
flüssen des Zeitgeistes, der Gesellschaft, wirtschaftlicher Fak¬
toren. (Diese leichte Unsicherheit ist Folge der Marxsdien
Einsichten; aber nicht mehr als Ahnung von peripheren
Kräften, die weiter nicht einzusetzen sind, für den Gemein¬
gebildeten.) Und nun ist zweifellos: es gibt keinen Didak¬
tiker, der über seine Leistung hinaus sichtbar geworden
w r äre, der menschliche Größe aufwiese, der irgend ein Inter¬
esse an skh und seiner Sache über den engsten Kreis der
Fachgenosscn hätte erw erben können. Charisma ist ihnen
nidit geschenkt. Und trotzdem ist in dem Sinn, den wir hier
vergleichen, ihre Wirkung größer als die der bedeutenden
Pädagogen, unter denen sidi Gestalten von Format und
U
hoher Qualität finden — wenn audi keiner zu den Größen
ersten Hanges gezählt werden darf.
Freilich fördert die Wirkung der Didaktiker, daß sie Auto¬
rität von Größeren leihen, als sic selbst sind. Denn diese,
Gomenius, Rousseau, Pestalozzi etwa, weit davon entfernt,
Didaktiker zu sein, haben doch die Grundsteine für den liau
der Untcrriditslchrc gelegt; mancher entscheidende, revolu¬
tionierende Anstoß ging von solchen Denkern aus, die nur
gelegentlich, für kurze Zeit, durch ein einziges Werk sidi der
Didaktik zuwandten. Unter deren Namen wird das Werk
geführt. Man muß aber die Förderung, die die Didaktik
durch diese ihre Schutzpatrone erfährt, nidit zu hoch cin-
schätzen. Der Bezug ist beinahe umgekehrt. Da ist der Mann
Pestalozzi, liebenswürdigste Menschengestalt, groß als Gemüt
und Seele, ungewöhnlidier Geist, mit außerordentlichen
bindenden und erziehenden Kräften begnadet. Sein halbes
Leben — ein Halbjahrliundcrt fast — Kindern gewidmet. Und
es war ihm gegönnt: wahrhaft revolutionäre Ideen und
Erfindungen sind ihm geglückt. Und von dieser Fülle ist ein
einziges in die Realität der Erziehung übergegangen, dieses
auch zur Unkenntlichkeit sdion von der ersten Sdiüler-
generation entstellt, aber doch eben von ihm ausgegangen,
sein didaktisches Werk. Sein nebensädilidistes gewiß, sein
falschestes vielleicht und vor allem jenes, das von ihm selbst
nur im Zusammenhang des größeren, gesamten Werkes als
ein Werk, wenn auch als recht geringes, eingeschätzt wurde.
Das gibt zu denken. Tausendfach, weil dies typisches Schick¬
sal der Lehren großer Pädagogen ist.
Für die Wirkung der Didaktik, wie wir abgekürzt und
kaum mißverstandlidi für jenen zweiten Schritt des Rationali¬
sierungsprozesses sagen, ist demnach nidit das Charisma des
sdiaffenden Einzelnen entsdieidend. Diese Tatsache rückt die
Didaktik in den gescllsdiaftlidien Rang der Bienenzucht etwa,
15
wird man veräditlidi sagen. Gewiß, doch keinerlei Mißachtung
ist am Platz. Sie rückt die Didaktik in den Rang eines
bescheidenen, sachlichen Mittels zu entwickelnder Umge¬
staltung eines vorhandenen gesellschaftlichen Brauches aus
seinen (zweckbezogen) irrationalen Traditionen zu rationalem
Tun oder audi Lassen. Die Bienenzucht mag in der Staffel
der GeseUsdiaftswerte tief unten, die Didaktik mag ganz
oben auf goldenen Stühlen thronen - manche lieben Honig
und hassen die schmähliche Bemühung, Kindern das bei¬
zubringen was sie durchaus nicht lernen wollen; aber viel-
euht srnd dies; Sonderli„ ge - dies verlangt seine eigene
unng s, dierhdi aber ist die Bienendidaktik, die Honig
serspndtt und deren Befolgung dem Adepten Honigsegen
dumm b T aI h "r PhiCdidaktik . bei der die Kinder
dumm bleiben. Aber sddießlidi ist das .
Wertungssache. Entscheidend wird seTn h
diesem Rahmen, der ihr gesetzt zu "’ ? U ' daktik si *
will; ob sie sidi bcscheidet zu sein ° m sdleint ’ einfügen
dies dann voll, voiikommen und T n u * ^ kann - ™ d
oder ob sie über diesen Rahmen hinaus t”i, et 2 “ werden ;
sie meinen, — aber in Wahrheit in Iäche \ <u ~~ lmauf wird
heit das Höhere gewiß nicht, und ihr e'^ \ t ^ uf geblasen-
erfüllen ward. ed a uch nicht
.Aber wir gingen ja davon aus, daß der Did t-
Stück Rationalisierung gelungen ist, sie ihre 4 * ein gUt
Möglichkeit in Angriff genommen hat, und d U .[ 8abe ’ ^
ereignet, trotzdem ihr die großen Menschen f hl ^ ^
dem sie höchstens die Wendepunkte bezeidi ^ trotX ~
das vor allem an zwei Tatsachen: die Mitarbeit” ^
der Didaktik wachsen aus einer bestimmten Fl r ** 1
ünd ihre Aufgabe ist prüzis „nd kontrollierbar, w”"
s^ehen 0 ^ sic !tü, ' 0n ^ lsierun S gcsellsdiaftlidien Tuns
‘ . «e an diese beiden Bedingungen geknüpft. Der
16
Unterricht liegt in Händen des Lehrers; Unterriditen ist eine
Berufstätigkeit. Die Didaktik ist die Anweisung für diesen
Beruf, ist Berufslehre. Ganz anders die Erziehung. Sic liegt
auch nicht zum geringen Teil bei einer Berufsgruppe.
An ihr sind zahlreidie Kräfte versdiiedenster soziologischer
Situation beteiligt — wir werden die Analyse dieser ver¬
wickelten Beziehungen noch in Angriff nehmen müssen — in
erster Linie die Eltern, die zwar einen Beruf haben, aber
nidit den: Kinder zu erziehen.
Die Aufgabe des Lehrers ist präzis: er hat zu unterrichten,
und zwar einen bestimmten Stoff, in einer bestimmten Zeit,
an bestimmte Kinder. Der Erfolg seiner Tätigkeit ist kon¬
trollierbar. Jederzeit ist feststellbar, ob die Schüler den zum
Prüfungsterminc fälligen Stoff beherrsdien. Der Lehrer wird
durch Prüfung seiner Schüler geprüft. Die Verhältnisse liegen
hier denkbar erfreulich, einfach, klar, übersichtlich. In der
Realität, heißt das. Die Pädagogik gibt sich äußerste Mühe,
diese nüchterne Einfachheit ideologisdi zu verzieren, diese
harte Klarheit armselig zu vernebeln. Sie verlangt z. B., der
Lehrer solle nicht nur unterrichten, sondern auch vor allem:
erziehen. Nur eben leider, daß sie nicht zu sagen w r eiß, wie
das zu gesdiehen habe, während die Didaktik sehr viele
Methoden kennt und lehrt, durdi die de facto, unerörtert,
ob sie die besten sind, die überwiegende Mehrheit aller
Schulkinder der Welt das Lesen erlernen; nur leider, daß
sie kein Kriterium besitzt, festzustellen, ob dieser kleine
Junge oder jenes kleine Mäddicn „erzogen” ist, während die
Güte der Didaktik mit wenigen Fragen geprüft werden kann :
hier lies dieses Buch und zeige, ob Pestalozzi recht hat, der
dich lesen gelehrt hat. ln so gefährliche Dileminen gerät die
Pädagogik: wenn etwas an ihren Lehren Erkenntnis ist, so
gewiß jene, die zeigt, daß in dieser Schule, wie sie nun eben
ist, der Lehrer nicht erziehen kann — und sie fährt fort,
Rcrnfeld, Sisyphos 2
17
anstatt andere Schulen zu erzwingen, vom Lehrer zu verlangen,
er solle mehr tun, als bloß unterrichten.
Der Lehrer möchte dies vom Herzen, wenn es erlaubt
wäre, jenen, der aus idealen Motiven Lehrer wurde, als den
Lehrer zu bezeichnen. Aber indem er Lehrer wurde, traten
zu den idealen Motiven, die ihm jenen Wunsch diktieren,
die sozialen und Ökonomischen Motive, die bei den anderen
für die Berufswahl entscheidend waren, hinzu und werden
nun seine Motive, Lehrer zu bleiben, die Laufbahn, die
innerhalb dieses Berufes offen ist, zu erfüllen. Angesichts
der faktischen Unmöglichkeit, mehr zu tun, als zu unter¬
richten - und dies scheint ihm zu wenig, wir sprechen ja
von den Hodimütigen - hat er die Wege frei: sich zu
täuschen (wie leicht ist das! weiß der Lehrer doch nicht,
was die Kinder außer seinen Stunden denken) und zu
glauben, er verwandle ihre Charaktere im Sinne seines
erhabenen Erziehungszieles; oder sich zu sorgen, sich zu
verachten, herabzusetzen, zu verärgern und zu verbittern im
Laufe der Jahre 5 oder auf die höheren Aufgaben zu ver¬
zichten und sidv zu bescheiden, ein Unterriditer zu sein.
Jeder Weg findet seine Wanderschar. Aber, wie immer er
sich abfinde, eins muß er leisten: erfolgreich unterrichten.
Und demnach von der Didaktik Gebrauch machen, sein Tun
rationalisieren, festhaltend an dem ihm Überkommenen, er
verhindert so Rückschläge vom erreichten Rationalisierungs-
Standard; oder neuernd, sei es selbstschöpferisch, sei es den
zeitgenössischen Schöpferischen folgend, er fördert so zu
seinem Teil den besagten gesellschaftlichen Prozeß.
Durch den Beruf — seine Ökonomisch-sozialen Gegeben¬
heiten — erzwingt sich die Gesellschaft von einer zahlreichen
Mensdiengruppe, alle ihre individuellen Neigungen und
Motive niveUierend, eine bestimmte Leistung auf einem
bestimmten Rationalisierungsstandard, Ob einer Lokomotiv-
f(ihrer wurde, weil sein Kindertraum der Bändigung des
Masdiinenungcheuers galt, oder weil sein Vater oder Onkel
es war oder nicht wünschte, weil das Einkommen groß, oder
das Ansehen bcträditlidi ist, weil es ihn lodet, ferne Länder
zu sehen oder fremde Menschen hin zu führen, ob er ent-
täusdit oder befriedigt ist, resigniert oder hoffend — er führt
seine Lokomotive sicher und arbeitstäglich von Remise zu
Remise. Und nur auf diese Leistung kommt es der Gesell¬
schaft an, um ihretwillen wird er entlohnt und über sie
hinaus darf er völlig frei sidi freuen oder verzweifeln. Diese
Leistung oder Hungertod ist letzten Endes die Alternative.
Wo Gründe sind, die geforderte Leistung zu verschleiern,
braucht es nur dieses Kriteriums, um sie recht zu erkennen:
was leistet der Beruf? Das Schulprograinm verlangt einleitend
vom Lehrer die Erziehung zum sittlich-religiösen Menschen
— und zählt dann die Fädier und den Stoffplan auf. Keines¬
wegs leistet der Lehrerberuf die einleitende Forderung. Der
sittlich-religiösen Menschen gab es anno 1224 kaum weniger
als 1924. Aber damals gab es so viel des Lesens Kundige -
vielleicht — als heute Analphabeten. Der Gesellschaftsgott
lächelt versdimitzt — es kränkt ihn nidit; er ist nidit böse
auf seine Lehrer. Sie taten ihr möglidistes und ärgerten und
mißachteten sidi brav. E r wollte ja nidit mehr, als daß sie
ihn von Analphabeten befreiten. S i e wollten das von den
sittlidi-religiüsen Menschen. Er gönnt ihnen den Spaß. Sie
hätten sidi vielleicht sonst gar nidit bemüht für 1200 Mark
das Jahr.
Die Präzision und Kontrollierbarkeit der Aufgabe und die
Berufssituation des Lehrers fördern die Rationalisierung des
Unterridites in erster Linie. Sie führen zur Verwirklichung
der theorctisdicn Rationalisierung: Didaktik. Diese selbst
verfährt prinzipiell wissensdiaftlidi. Sie ist keine W issenschaft,
wenn wir das Wort in einem terminologisch strengen Sinn
19
fassen, sie mag Teil einer Wissenschaft sein oder Teile ver¬
schiedener Wissenschaften zu einem praktischen Xweile, nach
einem praktischen Einteilungsgrund zusammenfassen — jeden¬
falls hat sie nahe Beziehung zur Wissensdiaft und arbeitet
m it wissenschaftlicher Methode und wissenschaftlicher Frage¬
stellung. Sie verfährt empirisch und diszipliniert; und sie
geht auf die Feststellung gesetzlicher Zusammenhänge aus.
Wenn ein Lehrer behauptet ~ oder in einer traditionellen
Lehrweise solche Behauptung impliziert ist - den Sdiüler
eine Regel merken zu lassen, sei nötig, sie ihm dreimal vor-
zusprcchen, so wird sie diese Behauptung prüfen, indem sie
genügend zahlrcidie Erfahrungen sammelt, und es wird für
sic entscheidend sein, ob die Behauptung sich empirisch als
zu Recht erweist. Sie wird dabei völlig absehen davon, ob
die Tradition dies Verfahren geheiligt hat, ob cs dem Tem¬
perament, den \V ünsdien, der Bequemlichkeit des Lehrenden
entspridit, sie v ird bemüht sein, Fehlerqueilen, inbesondere
die aus der Subjektivität fließenden, zu verstopfen, sie wird
ihr Ergebnis vermittels disziplinierten Denkens erreichen und
sichern, im Gegensatz zum naiven, das von subjektiven Er¬
fahrungen, Wünschen, Normen durchsetzt ist und das das
traditionelle Verfahren und Meinen fundierte. Sie wird aber
zugleich dahin tendieren, ihre Ergebnisse allgemein zu sichern,
über Lernen, Interesse und alles w T as damit zusammenhängt,
zu gesetzlichen Einsichten zu gelangen.
So wäre also die Didaktik eine musterhafte Disziplin der
Pädagogik? Es kann nidit so sein, denn die didaktische
Literatur läßt trotz allem letztlich und tief unbefriedigt.
Formal: die bescheidene Hingabe an ein Sachliches; das harte
Bemühen im Wirbel der Affekte, im diditverflochtenen Bei¬
einander von Wunsch und Gedanke, das subjektive
Erwarten und Werten zurückzu drängen; das Mittendrinstehen
in unendlichen Zusammenhängen und u»übersehbar zahl-
20
losen Bezügen bei der Bctraditung audi des winzigsten
Bruditeils der Realität, der Forschungsgegenstände; die
unvergeßliche Einsicht in die Fehler und Grenzen unserer
Methoden und unseres Geistes; das bleibende lebhafte Gefühl
von nodi nicht gedaditen Möglichkeiten — wir sind gewohnt,
wir verlangen einen Niedersdilag all dessen, einen Abglanz
dessen in der bescheidensten- periphersten, unwiditigsten
wissensdiaftlidicn Untersudiung zu finden und wir entbehren
diese reizvolle Patina der wissenschaftlichen Edithcit am
gesamten didaktisdien Schrifttum, es starrt uns nackte
Langeweile entgegen. Und solch Eindruck aus der ästhetisdicn
Sphäre - oder reicht er nicht dodi aus der tieferen, sitt¬
lichen, hervor? - madit uns mißtrauisch gegen den Inhalt.
Läßt uns inhaltlich unbefriedigt. Uns sdircckt der Aufwand,
er hat nichts Glaubwürdiges. Es wehrt sich etwas in uns, zu
glauben, hinzunehmen, daß Redmen, Lesen, Sdireiben,
Modellieren - daß dies alles so verzwickte, so undurdi-
dringlich schwierige Künste sein sollen, daß drei Folianten
von 1500 Seiten, Extrakt von 120 Seiten Bibliographie,
gerade genug zur Einführung in diese M issenschaft sind.
Aber wir erschrecken nidit minder, sind ebenso keinen
Augenblick vom Gefühl der Unglaubwürdigkeit und Inadäquat¬
heit verlassen, weil alles so schrecklidi einfadi ist, so lächer¬
lich simpel ist: ein halbdutzend einfadier Tests — und Intel¬
ligenzalter, Entwicklungsstufe, Zukunft und Begabung sind
amtlich bescheinigbar. Wir protestieren hier wie da. Oder
sind wir unwissenschaftlich bei solchem Verhalten ? Gestatten
wir — undiszipliniert — Affekten Einbrudi in die Wissen¬
schaftssphäre ?
Nun es läßt sidi erweisen, daß die Didaktik bescheidener
ist, als sie sein dürfte, und daß cs auf der falschen Seite
ist, daß sie haltmadit mit ihrem Prüfen und Rationalisieren,
wo noch keine Grenze für wissenschaftliches Denken ist,
21
daß sie heteronoin ihren Grundriß zieht, Halb- und Viertel¬
wert hat und darum entsdiieden des Kriteriums wissensdiaft-
lidier Haltung entbehrt: der Autonomie des Denkens, und
so gebrodiene Linien zeigt. Es ist eine amüsante Detektiv-
gesdiichte. Der Mörder ruft Polizei und Detektivs und läßt
sidi suchen. Kein Schimmer Verdacht fällt auf ihn, denn er
scheint das übermenschliche zu tun, die schreckliche Tat
aufzuklären, und genießt ihre Früdite im Rummel der ab¬
gelenkten Spürer. Die Schule ruft die Didaktik zu Hilfe und
diese im Respekt vor ihrer Herrin, - nun, das Bild wird
allgemach unbrauchbar schief, - findet nicht, daß diese Herrin
die Übeltäterin ist. Bildfrei: Im Laufe der letzten Jahr¬
hunderte entstand durch fortgesetzte Um- und Neubildungen
ein System von gesellschaftlichen Einrichtungen, dessen Zweck
der Unterricht der Kinder ist: das Schulwesen, eine breite
und komplizierte Institution, ein System von Einrichtungen
mit seinen bestimmten Prinzipien und Strukturen. Als
Ganzes übt es bestimmte Wirkungen auf die Heranwachsende
Jugend aus, auf die in ihm Heranwachsende, und ebenso auf
die außer ihm lebende. Die Tätigkeit des einzelnen Lehrers
sein Unterrichten ist bloß ein Faktor in dem Ganzen dieser
Wirkungen. Wir wüßten nicht einmal sicher zu sagen, welche
Bedeutung ihm zukommt. Und nur mit ihm befaßt sidi die
Didaktik, ja nur mit seinem bewußten, auftragsgemäßen
Tun. Alles andere bleibt jeder empirischen Prüfung, bleibt
dem disziplinierten Durchdenken entzogen. Es wird hin¬
genommen wie ein gottgewolltes Schicksal alles Unterrichtens,
daß es im Rahmen des heute, des jeweils gegeben Schulwesens
verläuft; und nicht einmal die Frage wird gesehen, welche
Rückwirkungen dieser Rahmen auf den Unterrichtsprozeß
hat. Indessen die Didaktik versucht, den Unterricht des ein¬
zelnen Lehrers - gelegentlich auch die Disziplinführung in
der Klasse - zweckrational zu denken, bleibt die Schule als
22
Ganzes, das Schulwesen als System ungestört, ungedadit;
dürfen sich in ihm alle irrationalen Kräfte auswirken, die
seine Voraussetzung, seine Triebkräfte, seine Determinanten
sind. Diese Lücke müßte die Didaktik erst schließen, ehe
sie den Ansprudi erheben kann, ernst genommen zu werden;
wenn sie als theoretische Rationalisierungsinstanz ihren
autonomen Umfang erreichen will. Sie muß sich durdi eine
Disziplin ergänzen, die man Instituetik nennen könnte. Sit
hätte zweckrational die Institution, die wir in ihrer Gänze
Schulwesen nennen, umzudenken. Wieviel dann überhaupt
von heutiger Didaktik übrigbleibt, wer will das wissen?
Aber es genügt einen Augenblick lang die Teilung des
Kindeslebens auf Schule und Familie, bzw. deren Ersatz in
Gasse und Verein, die Gruppierung der Schüler nach Alters¬
klassen und Sdiulsprengel, die klassenbedingte Festsetzung
des Lehrziels, die quantitative Aufteilung des Stoffes auf
Jahres- und Stundenportionen, es genügt, nur dies sichtbarste,
einen Augenblick nidit als unumstößlidie Gegebenheit ehr-
furditsvoll zu betrachten, und es taucht ein Gesicht von
Didaktik auf, das nichts mehr von der letztlidien Unglaub¬
würdigkeit und Verdächtigkeit der heutigen sehen läßt.
Die Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unter-
ridits gedacht und nicht als Verwirklichung solcher Gedanken
entstanden, sondern ist da, vor der Didaktik und gegen
sic. Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen — ökonomischen,
finanziellen — Zustand, aus den politischen 1 endenzen der
Gesellschaft; aus den ideologisdien und kulturellen 1 orde-
rungen und Wertungen, die dein ökonomischen Zustand und
seinen politischen Tendenzen entsprangen; aus den (zweck-)
irrationalen Anschauungen und Wertungen, die die psychische
Beziehung alt - jung, die Bürgersdiaft in einer bestimmten
Gesellschaft, in einer bestimmten ihrer Klassen, unbewußt
und unkorrigiert erzeugt. In welcher Richtung immer diese
23
Kräfte wirken mögen, es ist von vornherein unw r ahrsdiein-
lidi, daß sie die Erreichung des didaktischen Zweckes garan¬
tieren, es ist nicht einmal wahrscheinlich, daß sie ihm neutral
gegenüberstehen. Sondern es ist sehr zu erwarten, daß sie
ihn vielfach bredien und ablenken. Jedenfalls ist es wissen¬
schaftlicher Haltung nicht angemessen, soldie Möglichkeit,
solche höchste Wahrscheinlichkeit ungeprüft zu lassen. Die
Unerschrockenheit, Konsequenz, innere Geschlossenheit, die
das Zeichen wissenschaftlicher Bemühung ist, fehlt darum
der Didaktik.
Schlimmer noch, sie gerät in eine lächerliche, und von der
revolutionären Pädagogik her gewertet, verbrecherische
Situation. Und zwar durdi eine der bitteren Paradoxien, deren
die Geschichte der Pädagogik so reich ist. Das Schulwesen
hat offenbar Wirk ungen, die über den eigentlichen Unterricht
weit hinaus reichen. Die Schule - als Institution - erzieht. Sie
ist zum wenigsten einer der Erzieher der Generation;
einer jener Erzieher, die - zum Hohne allen Lehren der
großen und kleinen Erzieher, zum Hohne allen Lehr- und
Erziehungsprogrammen, allen Tagungen, Erlässen, Predigten
- aus jeder Generation eben das machen, was sie heute ist,
immer wieder ist, und gerade nach jenen Forderungen und
Versprechungen ganz und gar nicht sein dürfte. So wenig Ein¬
sicht haben w ir in die eigentlichen Bildungs- und Erziehungs¬
prozesse der Gesellschaft, daß wir nicht zu sagen vermögen,
welchen Anteil das Sdi ul wesen an dem sdiließlichen Resultat
der vereinten Bemühungen geheimer Kräfte hat. Aber wer
wollte zweifeln, daß es einen hat. Nur freilich, leider,
einen anderen als man, als die Schule von sich selbst be¬
hauptet. Wenn aber die heutige Generation von je und
heute das Erziellungsresultat der Schule ist, idi finde, daß
cs nichtswürdig ist und auch die revolutionäre Pädagogik
findet das, sieht sie doch als ihr Ziel die Veränderung dieser
24
Generation, ihre grünliche Vernichtung an. Weldier Pädagoge
und Didaktiker hat den Mut, sidi zu diesem Resultat zu
bekennen? Viclleidit gibt es nicht einmal einen, der mit
solchem mutigen Bekenntnis, wenn er es ablcgte, seine
wahre Meinung äußerte. Und das ist die Lächerlichkeit der
didaktisdien Situation. Da denkt, schreibt, experimentiert,
agitiert sie redlidi und ileißig - und sieht nidit, daß ihr
Tun unnütz ist, weil es am falschen Ort geschieht. Zugleich
aber - und das ist das Verwerfliche - erhält sie das Be¬
stehende, indem sie, selbst abgelenkt und abseitig tätig, Aller
Aufmerksamkeit vom Feinde ablenkt. Aller Arbeitskraft
nutzlos vergeudet. Nein, nidit erfolglos. Dient es dodi dem
gesicherten Bestand des Bestehenden.
Der Verfolg der Eindrücke aus den formalen Eigensdiaften
der Didaktik hat uns hieher geführt. Bis an ihre wirklidie
Grenze, weit Jenseits der unsichtbaren Zäune, in die sie ihr
Arbeitsfeld allzu eng eingespannt duldet. Idi darf meine
Vorwürfe kurz zusammenfassen, die sidi aus dem Inhalts¬
fehler der Didaktik ergeben. Hier geht sie zu weit. Hier ist
sie mutig. Hier sieht sie mit paradoxer Optik berghohe
Wände nidit, denn sie hat sie mit einer fladien Phantasie-
landsdiaft bemalt, deren Horizonte sie für den wirklidun
hält. Sie nimmt das Schulkind, die seelisdie Oberfläche, die
das Sdiulkind sich aufdecken läßt, für des Kindes Seele.
Weil die Sdiule des Kindes Leben und Lernen trennt, weil
die Schule dies lebendigste Lebewesen zwingt — in ihren
Räumen — ein intelligentes oder dummes, aber ein Lern-
wesen zu sein, meint die Didaktik, was sie vom Lernen
in der Schule feststellt, sei Linsidit in das Lernen, in das
Leben des Kindes überhaupt. Und meint, in der Psyche des
Kindes gäbe es einen säuberlich abgetrennten Bezirk für
Lesen, Schreiben, Rechnen, Handfertigkeit und Religion, und
untersucht die Vorgänge in diesem Bezirk, und hält die vor-
25
gefundenen Regeln für seelische Gesetzmäßigkeiten. Und
sieht nidits vom Bios des Kindes, seinen Trieben, Wünschen,
Idealen, nidits von seiner Lust und nichts von seinem Haß
gegen den Lernbezirk. Ich halte nicht für unnütz, das Kind
unter den krausen Bedingungen zu beobaditen, die die
Schule bietet, ein lehrreiches vielleicht, ein lebensfremdes
Experiment gewiß. Allein man muß wissen, was man dabei
tut. Die Didaktik weiß aber auch hier nicht, was sie tut.
Gott verzeihe ihr. Ich kann es nicht.
So beurteile ich die Lage des musterhaften Teils der Päda¬
gogik. Es wird mir Mühe machen, über den Rest, den an
Umfang und Schätzung bedeutenderen, auf wenigen Seiten so
viele der Vorwürfe zu häufen, sie aus der unendlichen Fülle
so gesdiidtt zu wählen, sie so spitz zu formulieren, daß der
Leser, durch die Menge und Art der Argumente bestrickt,
vergißt oder verzichtet, ihre sorgfältige Begründung zu for¬
dern. Denn wie könnte diese in einem dünnen Büchlein
gegeben werden? Ja, wie ist diese umfassende und tief¬
greifende Fundierung überhaupt einem Einzelnen möglich?
Zumal er ständig in Gefahr wäre, durch die ihn umgebende
Mauer von - wie er meint - Vorurteilen beim sorgfältigen,
gerechten Abwägen abgelenkt zu werden. In seiner Situation
kann nur eine gewisse unbekümmerte Impetuosität das Ein¬
halten der Richtung sichern. Sie ermöglicht zudem die Zahl
der Vorwürfe auf einige wenige - beispielhafte - einzu-
schränken.
Anders als ihre Teildisziplin Didaktik, ist die gesamte
Pädagogik in keinem Sinn und in keinem Maß wissenschaft¬
lich. Dieser Satz gilt wörtlich. Kein Dutzend unbekannter Auf¬
sätze, kein halbes Dutzend kleiner schleditgekannter Büchlein
widerspricht ihm. Und diese Kleinigkeiten sind zager Ansatz,
Versuch zum Ansatz. Man wird erlauben, wenn ich diese
paar Dutzend Seiten aus der pädagogischen Literatur — vor-
26
läufig und der Einfachheit wegen - streidie. Ausnehmen
will ich nodi die Gesdiidite der Pädagogik. Sie soll uns in
anderem Zusammenhang beschädigen. Was übrig bleibt —
o heilige Commeniusbibliothek im ordentlidien Leipzig, wie
hütest du wohlgeordnet diese Hunderttausende von Büchern!
— es sei sein Wert weldi höchster Kategorie immer, vom Geist
der Wisscnsdiaft ist es verlassen.
Beginnen wir mit den Großen, den Pädagogikcrn - ich
sehe ein, das Wort ist nicht schön, es ist aber gut, denn es
warnt uns, die größte Größe zu erwarten, das angehängte
-iker, unbeabsichtigt klappert es doch ein wenig Verkleinerung
nadi. Und beginnen wir mit einer ehrlidien Reverenz. Ge¬
stehen wir zärtliche Liebe zu Pestalozzi und Jean Paul, nidit
nur zu ihren hübschen Rokoko- und Empirebänddien, zu
Gesicht und Handschrift, nein, zur Gestalt, zum Leben, zum
lebendigen, wirkenden Menschen; gestehen wir tiefe Ehr¬
furcht vor dieser steifen, ungebrochenen Fichte—Rede,
-Denkphantasie, —Lebensgewalt; gestehen wir noch er¬
schrockene, befremdete Aditung vor der unerschöpflich geist¬
reichen Krankheit des fürchterlichen Rousseau, Und ist nicht
mehr wie Rührung, ist nicht ein Stück Neid und Sehnsucht
beim Sehnepfenthalisdien Idyll Salzmann, mehr sogar nodi
als bloßes Amüsement beim krausen Reklamehelden Basedow 7 ,
spürt man nicht das kluge und gütige Auge Komenskys, das
den ganzen Orbis pictus sah, weldi würdiger Bart umrahmt
es? Und steht nicht jeder an der Spitze einer Schar Ähnlidier,
durch Zufall der Geschichte nur dem Gelehrten nodi mehr
als nadi Namen bekannt, mit denen uns Gefühle der Aditung,
Rührung, Verehrung verknüpfen? Ihnen allen ehrlichste
Reverenz, Aber wir sind nidit zusammengekommen, der
Leser und der Autor, um zu verehren, nidit einmal um
höflich zu sein, am wenigsten um zu schonen. Ihnen schadet
es nicht mehr, vielleicht wird es zu guter Letzt zu ihrer
27
Lehren Nutzen ausgehen. Und schließlich: Donnerwetter, wie
hätten sie midi mißhandelt, so zwisdlen anno 16.50 und 1850,
hutt’ idi midi damals nur gerührt. Nidit einmal Reverenz
halt’ idi zum guten Beginnen bekommen. -
Sdion die völlig fehlende empirisdie Basis bei einer Reihe
von sehr bedeutenden und einflußreidien Pädagogiken!
stützt die Allgemeinheit des Vorwurfes der Unwissensthaft-
idikeit. Da ist Rousseau, der sein Lebtag nicht anders mit
indem zu tun hatte, denn als unwilliger Vater oder flüch¬
tiger Zuschauer. Da ist Fichte, Herbart, Basedow, Jean Paul
' eren Lehren auf dem kümmerlichen Ansatz einer Empirie'
ruhen, den Hauslehrersdiaff, Hofmeisterwürde bei zwei drei
oder selbst zehn Kindern in vielfach abgclenkten Studien-
lahren gewährt Wunderliche Astronomen, die nachts fest
sddafen und sich morgens von Sternen erzählen lassen, um
nach lisdie über sie zu denken und zu schreiben. Päda-
gogi -er, die keine Kinder kennen, oder nur so vom Hören¬
sagen, flüchtig aus der Ferne und Vergangenheit, bestenfalls
dieses und jenes aus persönlidiem und nahem Umgang.
Ver immer über Kindheit oder Jugend denkt, steht unter
einer psychischen Konstellation, die das reine üenkergebnis
aßek, IV gefährden wilb Ein Kind kennt er mit unvermeid-
hdier Aufdringlichkeit und Lebendigkeit: sich selbst als Kind
Und diese Kindergestalt ist ein Apriori, das er jeder Er-
ahrung von anderen Kindern als gebieterisches Prokrustes¬
bett voranhält, sie völlig zerstückelnd und verstümmelnd.
Und - Gipfelpunkt der Gefahr - völlig harmlos und unbe¬
wußt, in gutem Glauben, bei gänzlidi schweigendem, intellek¬
tuellem Gewissen. Wäre die Erinnerung an die eigene
Kindheit treue Reproduktion eines Objektes, wie sidi einer
etwa zu Hause sizilische Landschaft, vor Jahren gesehen
sei es auch mit allen Affekten genossen, treu in Farbe und
Gestalt vergegenwärtigt, so wäre sie zwar unzulänglidie
28
Basis einer Verallgemeinerung, aber doch deren Ansatz.
Unsere erinnerte Kindheit ist aber weit entfernt davon,
treue Erinnerung zu sein, sie ist Tendenz, entstanden in den
tiefsten Seelen wirbeln des Lebens, festgehalten, ausgestaltet
. als Waffe gegen mäditige f einde innerhalb der eigenen
Seele in lebenslänglichem Kampfe. In einem Kampf, dessen
Ziel gewiß alle Mittel heiligt. Was bedeutet hier Wahrheit,
Erkenntnis. Sie haben nichts mit dem Ziel gemein, sie
kommen als Mittel gar nicht in Frage.
Unsere bewußte Kindheitserinnerung hat zu Elementen
isolierte Reste realer Erlebnisse, deren Zusammenhänge durch
die Verdrängung zerrissen sind. Sic entstehen in den Zeiten
des definitiven Idiaufbaues, in der Pubertät, etwa nadi den
Methoden gewalttätiger Herrschaft: was mit dem Bauplan
nicht übereinstimmt, was zum gewollten Bild nidit paßt,
wird vernichtet. Und wieviel kann dem neuen Ichideal der
Pubertät, das sich gegen clic ganze Kindheit wendet, vom
kindlidien Tun, Denken, Fühlen recht sein? Es ist ja der
Zweck des neuen Person! idikeitsaufbaues, die frühere Lebens¬
stufe zu überwinden, sie also spurlos — möglichst — zu ver-
niditen. Diese isolierten Reste werden nun verbunden, ergänzt
durch Überarbeitungen der realen Vergangenheit, von soldier
Intensität, daß tatsädilich etwas entsteht, das jener zerstörten
Wahrheit wie Diditung gegenübersteht. Nicht die Fakta des
äußeren Lebens sind hier gemeint, obzwar auch sie nicht
allgemein ausgenommen werden müssen, sondern die innere
Struktur des seelischen Lebens. Und das Ganze ruht auf
einem Grund, von dem nicht eine Spur mehr sichtbar blieb.
Die ersten Jahre sind völlig vergessen. Stellt man ein Stück
von ihnen im Bewußtsein wieder her, so zeigt sich, daß
dieses Urvergessene den geheimen Bauplan der erhaltenen
Reste bestimmt. Sie stehen an wichtigen Stellen, sie decken
unerkennbar und harmlos dem nicht analysierenden
29
Bewußtsein Stellen stärksten psychischen Kampfes, Tatsachen,
ie zum erinnerten Bild in bedrohlichem Widerspruch
stehen. Daß solch lückenhaftes, entstelltes Bild von
der eigenen Kindheit keine zulängliche Basis für wissen¬
schaftliche Einsicht ist, leuchtet ein. Und doch ist die
Gefahr, die dies natürliche Seelenprodukt, der naive
Begriff von Kindheit, der Pädagogik bringt, nodi nicht er¬
schöpft.
Wir wollen nicht übersehen, daß es Triebe, heftige infantile
" unsdle sind » die der Verdrängung verfielen und durch die
naive Anschauung über die Kindheit verdeckt werden Und
Triebe, infantile Wünsche sind unsterblich. Tausendmal ver¬
drängt, sie bleiben lebendig, und unkenntlid. entstellt in
f °rm und Ziel, drängen sie unermüdlich nadt Befriedigung
Andern Pädagogiken Auch während seines Denkens und
reibens. Da ,st einer, der - allein vom Wissen um seine
Kindh - e ge T‘ " Seine Icidens * aft lidie, triebwilde
Kincmeit verdrängend, zur Verherrlichung des idealen Kindes
der Kindheit als idealen Zustand gelangt: „Alles ist gut, wie’
es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt ” so
jertet er das Resultat der Verdrängung und zuglei* ist
den verdrängten Triebansprüchen Befriedigung geworden
die infantile Aggression gegen die erwachsenen Unterdrücker
tobt nun entstellt: „Alles artet unter den Händen des Men
sehen aus.”
Da ist ein anderer, dem es sauer geworden sein mag, die
idudeal-konträren Impulse zu bewältigen - dur* Verdrän¬
gung natürlich - au* seine Kindheitserinnerung enthält
ni*t mehr als harmlos boshafte Streidie, aber das Fazit aus
c cn Pyrrhussiegen in der eigenen Seele ist in der Einsidit
gezogen: „Hast du Kinder, so zeu* sie und beuge ihren
Hals von Jugend auf. Wcl*e Eltern umb die Kinderzu*t
ni t bekümmert seyn, sondern ihre Ehepflantzen als wilde
30
Ranken daher wachsen lassen, sind nidit werth, daß man sie
Thiere, geschweige denn Menschen nenne.” Und die gleiche
infantile Aggression ist nun auf das Kind, auf die anderen,
seine Kinder gerichtet und tobt gegen sie, und wäre es auch
bloß auf dem Papier, wie bei jenem gegen die Erwadisencn,
Der naive Kindheitsbegriff ist von geheimer Tendenz durdi-
tränkt, Tendenz cles jungen Ichideals gegen seine kindliche
V ergangenheit, Tendenz des erwachsenen Idi gegen die nidit
erledigten, sondern bloß verdrängten infantilen Triebe,
Tendenz des Denkenden gegen seine Objekte, die:’ Kinder
und ihre Erzieher. Er durdidringt mit Wertung die Sphäre
des Tatsächlichen, auf ihm basiert nidit allein die Vor¬
stellung des Pädagogiken vom Kinde, sondern zuglcidi auch
die Konsequenz dieser Vorstellung, der Grundriß des Er¬
ziehungssystems. Unbewußte, erkenntnisfremde, unkontrol¬
lierbare Einmischung der Affekte findet im Zentrum des
pädagogischen Systems statt. Kein sichereres Kriterium gegen
die Wissenschaftlichkeit eines Gebildes wäre aufzeigbar.
Man kann dies alles als Tatbestand zugeben, gerade uin
zum entgegengesetzten Werturteil zu gelangen. All das be¬
weise ja, daß die Lehren der großen Pädagogiker nidit
bloßes Vemunftergebnis seien, daß sie - viel mehr, viel
tieferes als das - Intuition des Genies sind. Und das glaube
audi. Ja, das eben behaupte ich. Sic sind — nicht selten;
^ tiefe Intuitionen außerordentlidier, bemerkenswerter
enschen. Ihre Schriften und Ideen sind von hohem Schön-
leitsge lalt, von hohem Sittlidikeitswert; mandie gefallen im
besten Sinn des Wortes, mandie ersdiüttem, bekehren. Als
Leistungen der Intuition entspringen sie dem tiefen Unbe¬
wußten und rühren an das Unbewußte des Lesers. Ganz
wie die Diditung, die Kunst, die Philosophie. Sie sind
Dichtung und Philosophie. Aber wir dürfen dies nidit bloß
als Wertung auffassen, wir müssen cs als Tatbestands-
3*
bezeichnung nehmen. Manche Lehre der Pädagogiker ist
gute, manche ist schlechte Diditung oder Philosophie. Jenes,
was als schön und tief wirkt, dieses, was als häßlich und
flach nicht wirkt. Wer will bei Dichtungen nach empirischer
Basis und nach ihrer Richtigkeit fragen? Hier gelten andere
Kriterien als bei der Wissenschaft. Damit hätte idi meinen
Einwendenden, dem ich völlig zustimme, dort wo ich ihn
brauche. Die Leistungen der großen Pädagogiker sind Kunst-
Icistungen, Intuitionsschöpfungen. Sie sind nidit Wissenschaft.
Und eben das war zu beweisen. Werten wir sie als Dich¬
tung, so mag ihr Rang ein sehr bedeutender sein, wird aber
dadurch allein in der Wertung als Wissenschaft ein niedriger.
Und die Frage erhebt sich, ob die Lehren der Pädagogiker
als Dichtung gewertet werden wollen, ob sie das dürfen.
Daß wir zu dieser Frage gelangen, zeigt das Unangenehme
der Situation. Es ist, als hätte der Bildner des Zeus von
Otricoli versprochen, einen leibhaftigen Gott zu schaffen,
der wahrhaftig mit den Brauen winken und mit der Marmor¬
hand Donnerkeile werfen w ird. Und wir stehen vor diesem
Wunder der Kunst, die Schönheit verehrend, die Macht
erlebend, die Kunst bewundernd und vergessen, was uns
versprochen wurde, vergessen es dem Künstler, daß er sein
Ziel nicht erreichte, weil wir ein höheres vor uns erfüllt
sehen. Aber er bleibt der steinerne Gott gänzlich unbewegt
und der Bildner hatte gelogen.
Vergessen wir nicht: jede pädagogische Lehre — jede der
Dichtungen über Erziehung, die uns hier vorschweben -
macht eine Aussage über die Realität: Wenn du meine
Methoden befolgst, dann erreichst du, daß aus deinen Zög¬
lingen wahr und wahrhaftig jene Menschen werden, von
denen als den Idealen oder Zielen ich eingangs sprach. Und
diese Aussage, diese Behauptung, dieses Versprechen ist
das wichtigste Stück der ganzen Lehre, ohne es bestünde sie
32
überhaupt nidit. Und wegen dieser Versprechung ist das
pädagogische System objektiv keine Dichtung, es mag sub¬
jektiv als soldie entstanden sein, es mag als solche Werte
besitzen. Über seinen Wert entscheidet, ob das Versprechen
erfüllt wird. Nur dann ist die Lehre richtig. Da hilft nichts.
So flach ist die Angelegenheit.
Der Leser hat einen Lin wand im Hintergrund, der zwar
nur ein Detail trifft, den ich ihm aber entreißen muß, sonst
vcrsdiließt er sich meinen Argumenten, in der Hoffnung,
midi gelegentlidi völlig durch meine eigene Unachtsamkeit
zu vernichten. Ich habe bedadit, daß unter den großen
Pädagogikern Schulgründer sind. Idi habe Dessau so wenig
wie Stanz, Iverclün, Keilhau und Schnepfenthal vergessen.
Mein Gegner bat recht: hier waren hunderte versdiieden-
artige Kinder unter den achtsamen Augen des Pädagogikers.
Hier wurden die Lehren an der Realität geprüft. Hier war
eine genügende empirische Basis. Und tatsadilich ist der
naive Begriff von Kindheit bei diesen Pädagogikern durdi
eine mannigfaltige Erfahrung korrigiert. Wie konkret und
ebendig ist jedes Wort über Kinder bei Pestalutz, mit den
Schemen Fichtcs, mit den affektiven Verzerrungen Rousseans
verglichen. Gewiß, auch hier sdilägt die apriorische Tendenz
durch. Das geschähe audi, wenn diese Männer zchntausend-
fach vermehrte Erfahrung gehabt härten. Denn zuletzt kommt
es nidit allein auf die - unerläßliche - empirische Basis an,
sondern auf die wissensdialfliche Gesinnung, die das Maß
der Korrekturen, den Umfang der Einschränkung des Autis¬
mus entscheidet. Diese Emsteilung fragt nadi dem Sein. Wie
ist das Kind? Sic fragt nicht nadi dem Beobaditer, nidit,
wie wirkt das Kind auf mich? Die großen Pädagogiker dieses
Typs, seien sic immerhin große Pädagogen genannt, da sie
ja wirklidic und nidit bloß gedadite Kinder führten, emp¬
finden gegenüber dein Kind: Rührung, Liebe, Mitleid, Hoff-
Bernfeld, Sisyphos 5
33
nung, Abscheu, Entsetzen. Und dies ihr Gefühl, ihre per¬
sönliche Reaktion auf das Sein, ist ihnen das Problem, ist
ihnen Angelpunkt ihrer Lehre, ist ihr Beobachtungsinstrument.
Sie sehen nicht das Kind, wie es ist, sondern im Grund nur das
Kind und sich selbst, eins aufs andere bezogen. Und wenn
sie selbst von sich abstrahieren könnten, es interessierte sie
gar nicht, wie das Kind an und für sich ist, sondern
einzig, wie man aus ihm etwas anderes bilden könnte. Das
Kind ist Mittel zum theologischen, ethischen, sozialutopischen
Zweck.
Jenen fehlt die Möglichkeit zu jeder wissenschaftlichen
Betrachtung; diesen ist sie empirisch gegeben, sie vermögen
sie nicht zu nutzen, denn es fehlt ihnen die Einstellung der
\V issenschaft. Sie fördern daher den Rationalisierungsprozcß
der Erziehung nicht. Die von ihnen geschaffene Pädagogik
ist nicht die Rationalisierungsinstanz der gesellschaftlichen
Prozesse, die wir Erziehung nennen. Ihre Lehren stehen zwar
voll im Gegensatz zu den Vorgefundenen, zu den zu ihrer Zeit
üblichen und gültigen Erziehungsbräudien und -ansdiauungen.
Sie erheben sich auch, gewertet nach den Kriterien der
Schönheit, der sittlichen Ideale, der Tiefe der Auffassung,
der menschlichen Reinheit, weit über den zeitgenössischen
Durdisdanittszustand; sie zeichnen ein sittliches, künstlerisches
Niveau der Pädagogik an, das gelegentlich sehr hoch sein
mag — aber sie führen keine Übereinstimm ung zwischen
ihren Zielen und den Mitteln, die zu ihnen zu führen ver¬
sprechen, herbei. Es klafft eine unüberbrückbare Kluft
zwischen dem Ziel und dem Mittel. Denn die Ziele sind
allemal hohe, letzte; und den Erweis der Tauglichkeit der
Mittel vermag nur eine wissenschaftliche Prüfung zu erbringen,
deren letztes Kriterium der reale Erfolg ist.
Der Aufbau des ganzen Systems verhindert überhaupt die
Anlegung dieses Maßstabes. Die Lehren der großen Päda-
34
gogiker (und Pädagogen) sind notwendigerweise, nach ihrer
inneren Struktur, unerweislidi. Sie haben, so versdiieden sie
na di Inhalt, nadi Darstellung, nach dem Maß systematischen
Aufwands immer sein mögen, obzwar es gut ist, die ober¬
flächlich weitgehenden Differenzen als in tieferen Schichten
auf typisch einfache reduzierbar anzunehmen, sie haben zwei
Konstanten, die jeder Korrektur durch irgendeine Empirie
entzogen und Eckpfeiler des ganzen Lehrgebäudes sind:
Das Ziel der Erziehung und sein Objekt. Die Ansdiauungen
über dieses sind von unbewußten Trieben im kontrollierbar
gewiß sehr weitgehend beeinttußt, jenes erscheint als gegeben.
Das letzte sittliche, soziale, religiöse, intellektuelle Ideal ist
ihnen als Ziel der Erziehung gerade genug. Es ist a priori
gegeben. Steht über jeder Diskussion. Und hält es ein syste¬
matischer Kopf für nötig, dies Ziel abzuleiten, so sind seine
Deduktionen nur Spicgelfediterei. Er weiß von vornherein,
was das Ergebnis der Deduktion sein wird, er bringt es
mit; er hat es vor seinem Denken und wird dieses so
f uhren, ihm gewißlidi soldie Prämissen schaffen, daß ihm keine
Überraschung drohe. Und woher hat er dieses unbeirrbar
sichere Ziel? lrn einfadisten Fall von seinen Lehrern oder
Zeitgenossen; im komplizierteren aus sidi selbst. Er hatte
es in sidi erlebt als Sicherheit, als verehrungswürdige
Gewißheit, wie den Sternenhimmel über sich. Das mit den
Sternen überlasse idi gern dem Erkenntnistheoretiker zum
Entsdieid, aber von dem Sittengesetz in mir weiß ich, daß
es unentwirrbar komplex versdilungen ist mit dem Unbe¬
wußten, mit allem Bösen, mit allem Fremdartigen, mit allem
Unkontrollicrbarcn in mir. Ja, es weist gebieterisch eine
Richtung und unübertäubbar erklärt es diese als die richtige.
Aber indem ich ihm folge, bin idi Sklave einer Macht, deren
Wurzeln, deren Ziel, deren Kompetenz idi nicht kenne. Idi
bin es gern. Das ist meine Schuld. Nidit mein Verdienst.
3 *
35
arum bin ich stolz und heiße midi frei und Bahnbrecher,
wo idi zu blind bin, sie zu durchschauen, zu feig, sie zu
zerstören — vielleicht. Aber wie immer: Ich erlebe dies Un¬
bekannte - unbekannt: woher, unbekannt: wohin - als
Norm, die mich zwingt; idi bedauere die Grenze der Er¬
kenntnis, aber ich glaube meinem Erleben. Mit Erstaunen,
Freude, vielleidit auch mit Bangen kann idi linden, dies
mein Menschideal ist dasselbe, im wesentlichen, so scheint
es, wie des Pestalozzi, wie des Herbart seines, wie aller der
großen Pädagogiken ja wie alle Menschen seit je, scheint
mir, die Normen formulierten. Wir finden uns in schönster
Harmonie über das Ziel der - Menschheit. Idi aber stelle
die Frage: Wer beweist, daß dies selbe audi das Ziel der
Lrziehung sei ? Jene behaupten es in edlem Irrtum. Sie
denken nicht daran, hier auch nur etwas von Frage zu
sehen. Denn solche wichtigste Angelegenheit wie die Er¬
ziehung, was anderes soll ihr Ziel sein, als eben das letzte,
umfassendste? O St.-Veitstanz, den man Ideengesdiichte der
Pädagogik nennt. Wäre das Mensdiheitsziel Erziehungsziel,
dann wäre Erziehung eine hochwichtige Angelegenheit. Daß
aber die Pädagogik hochmütig selbstverständlich der Er¬
ziehung höchste Aufgaben setzt, enthebt uns nicht der Prü¬
fung, ob sie recht hat, so zu tun.
Man setze etwa folgenden Fall: Es sei erwiesen, ganz
unbez weif eibar, daß unter einer Bedingung sofort dies seit
dem König Ukuragina gesehene Mensdiideal ganz ohne Aus¬
nahme verwirklicht würde: wenn die Erdachse, die bekannt¬
lich schief steht, gerade stünde. Und es sei ferner ebenso
erwiesen, dies sei nur unter dieser Bedingung erreichbar. Und
es sei schließlich dieser Erweis zu einer Zeit erbracht, in der
menschliches Können nodi völlig ratlos vor der Aufgabe
steht, solche gigantische Reparatur in Angriff zu nehmen.
An dem Mensdiideal würde soldie Einsicht in die Dyna-
36
mik der sittlidien Entwicklung und die tedinisdie Sdiwierig-
kcit der Sadie nidits ändern, es bliebe die letzte Sehnsucht
der Philosophen, der Dichter, der Schwärmer und der Hoff¬
nungsvollen, und wir selbst, wer w T eiß, wären unter ihnen
und würden Astronomie statt Psydiologie studieren, Hebel-
versudie statt Sdiulgemeinden machen, und die Ingenieure
würden stolz sein auf eine allgemeine Masdiinenwissen schaff,
aus dem Zweck der Menschheit deduziert. Und die Pädago-
giker, die unentwegt den Felsblock der pädagogisdien Mittel
auf den Gipfel des Idealbergs wälzten, ersdiienen Iädierlidi
und unnütz: sisyphisdie Uberhebung, von boshaften Göttern
mit Mühsal und Erfolglosigkeit bestraft.
Nicht das ist also der Vorwurf, daß die Pädagogiker große
und edle Ziele haben, sondern daß sie die Erziehung -
ungeprüft — zur Vollstreckerin dieser Ziele madien. Daß sie
nicht fragen: Ist dies ewige Menschideal erreichbar? Uns er¬
reichbar? Durch Erziehung erreichbar? Erstnadi Bejahung der
drei Fragen wäre die dritte zu stellen : Durdi das von mir
erfundene Mittel? Wir werden versuchen, diese Fragen in
geeigneterem Zusammenhang zu prüfen, denn man muß
weit ausholen, soll das Ergebnis mehr sein, als die brage-
stellung allein, mit der hier ein Genügen geiunden sei, um
rasch das Mißtrauen auszuspredien, das nunmehr unser
a priori gegenüber den Lehren vom Mittel der Erziehung,
wie sie die Pädagogiker tradieren, sein muß. Einer satirisdien
Geschichte der Pädagogik bleibe Vorbehalten, die Lehren
der Pädagogiker - der größten und ehrwürdigsten audi - im
Einzelnen darzustellen, in ihrer schreienden Dissonanz zum
edlen, ew igen, ersdiüttemd formulierten Ziel. Mit der Frei¬
heit, die sidi der Sdiriftsteller erlauben darf, der schreibend
bereits verzichtet hat, völlig zu überzeugen, weise idi auf
einige Data hin, zufrieden, wenn den Leser Ungläubigkeit
und Widerspruch zur Prüfung anregt.
37
Alle erzieh erisdien Maßnahmen, die als geeignet gelehrt
werden, das Kind mit seiner naiv und intuitiv erfaßten
Struktur zu jenem hohen Ziel zu verändern, sind verdächtig
einfadi und banal. Ihre Banalität erweist sidi sdion darin,
daß sic alle samt und sonders und jede einzelne für sich
nidit neu sind. Wahrscheinlich ist es gar nicht möglidi, ein
wirklich neues Mittel der Erziehung zu erdenken. Gewiß
ist es den großen Pädagogen nicht gelungen. Ob sie nun
Liebes kraft oder harte Zucht Vorschlägen, Belehrung durch
Worte, durch Beispiel oder Rute empfehlen, ob sie für aktives
Verhalten des Erziehers sind oder für geduldiges Zuwarten,
ablenkendes Ausleben der kindlichen Impulse oder deren
Unterdrückung verlangen - seit es Eltern, seit es Erzieher
gibt, ist diese uralte Skala vom strengen Blick bis zur
Gefängnisstrafe, von dem milden Wort bis zur bändereichen
Predigt allüberall geübt worden. Kinder wurden zu Millionen
in kunterbunter Mischung all solcher Mittel, Millionen wurden
von jedem einzeln erzogen, es kann keine Kombination mehr
geben, die nidit bereits gewirkt hätte - und das Ergebnis
ist die Menschheit von heute, von je. Immer standen die
empirisdien Mensdien vom ewigen Menschideal so weit ab,
daß etwaige Differenzen nach oben oder unten vernach¬
lässigt werden können, daß der Satz gilt, sie sind seit Jahr¬
tausenden gleich weit vor ihm stehen geblieben. Es bedarf
doch keines Hinweises auf die Unterscheidung zwischen
zivilisatorischer Höhe und sittlicher Vollkommenheit? Idi
nehme an, der Leser ist durch die verschiedenen Äußerungs¬
formen der ewig gleich idealfernen Seelen Struktur nidit
blendbar, und erkennt sie nicht als verschieden hohe, sondern
bloß als verschiedenartige Niveaus gesellsdiaftlidier Gebilde.
Den banalen, seit je gebräuchlidien Mitteln der Erziehung
als solchen w r ohnt die umbiidende ideaiverwärklichende Kraft
nicht inne, die die Systeme der großen Pädagogiker ihnen
38
zusdireiben. Es gibt keine Zauberei. Audi nidit durdi milden
Erzieherblick, nidit durdi heilsame Prügel.
Aber vielleidit sind diese Invektiven nidit berechtigt. Viel¬
leicht wäre dodi dies oder jenes Mittel fähig, das gesetzte
Ideal zu erreidien. Es liegt an der Struktur der Pädagogik,
an der Situation des Pädagogikers, daß diese frage so
sdiwierig zu entscheiden ist. Wo ist der Weg, der zur Geridits-
stätte führte, wo sind die Richter, die an ihr wirken könnten,
weldics könnten die Regeln, die Indizien sein, wenn es zu
entscheiden gälte, ob dieser Junge ein sittlidi-religiöses
Subjekt, dieses Mädchen ein Charakter ist, ob A die dritte
Stufe der rechten Ehrfurcht, ob B das gleidischwebende, viel¬
seitige Interesse erlangt hat ? Sprechen wir gar nidit von der
letzten Vollendung, sie mag immerhin Ideal, also unerreich¬
bar, nie erweisbar sein; denken wir an jene niedrige Stute
der unendlichen Treppe zum Ideal, die als erreichbares Ziel
gelten soll. Idi frage nadi verbindlichen Kriterien. Idi bin
ein Flachkopf, der nichts von Metaphysik versteht. Idi bin
ein polemischer Flachkopf, der von Metaphysik in der
Erziehung nichts wissen will. Man kann hier die Diskussion
mit mir abbrechen und midi belehren, daß cs in der Sphäre
der sittlidien Werte rationale Maßstäbe nidit gibt. Dann
rufe idi dem Weggehenden nadi: Warum beschimpfen Sie
mich, gerade dasselbe sage ich ja. Bleiben Sie, wir sind
einig. Will man dann den Abbruch dieser unterhaltsamen
Diskussion vermeiden — und durdi unsere Einstimmigkeit w äre
sie hier so gut abgebrochen wie durch die denkbar sdiärfste
Disharmonie - so redet man mir etwa folgendermaßen zu:
„Aber es gibt dodi wahrhaftig Unterschiede zwischen den
Kindern, und wenn wir sie auch gewiß nidit immer klar zu
formulieren vermögen, so haben wir doch nicht minder
deutlich den Eindruck von einer Gesamtperson und ihrer
Relation zu den Werten und Idealen, zu den Zielen wenigstens
39
1
und beurteilen mittels derselben Intuition, die jene Ziele auf¬
gestellt hat, ihr Ver wir k 1 i chun gs ni vea u im konkreten Fall.
Die Maß stäbe seien immerhin nicht auf zeigbar, wir unter¬
scheiden doch das verbrecherische Kind und einen verträg¬
lichen, einfügsamen, bildbaren Charakter. Man muß nicht
übertreiben und nicht gewalttätig einseitig sein.” Mein freund¬
licher Opponent hat Recht mit jedem Wort. Er erlaube mir,
daß ich seinen Gedankengang aufnehme, indem ich dieses
uns intuitiv gegebene pädagogische Urteil über den Charakter
eines Kindes, über seine Zielnähe oder Zielferne als Tat¬
sache akzeptiere, aber als eine erklärungsbedürftige. Wir
wundem uns zu wenig über die Sidierheit, mit welcher das
pädagogische Urteil in uns erscheint. Die subjektive Über¬
zeugungskraft, mit der es sich uns präsentiert, schreiben wir
seiner objektiven Gültigkeit zu. Hier aber liegt ein Problem,
eine wissenschaftliche Aufgabe, deren Resultat wir nicht
vorweg eskamotieren können. Die Systeme der Pädagogiker
lassen nichts von dieser Problematik ahnen. Naiv und
ahnungslos entscheiden sie über ihren pädagogischen Erfolg,
den Wert ihres Mittels, auf Grund ihrer intuitiven Beur¬
teilung der kindlichen Struktur. Dieselben unbewußten Kräfte,
- oder andere, aber ebenso unkontrollierbar und unbemerkt
dem Ubw entstammende, - die das naive Bild vom Kind
gestaltet haben, determinieren auch das naive Urteil über
den Erziehungserfolg. Farbenblinde Maler haben Rot und
Braun Ununterschieden zu Landschaften verwendet, eine farben¬
blinde Jury prüft die Bilder auf ihre naturalistischen Quali¬
täten. Nur daß die pädagogischen Systemmaler Bildner und
Jury r in derselben Person vereinen.
Wie weit das aufgestellte Erziehungsziel (ideal) erfüllt
wurde, ist demnach nicht kontrollierbar. Oder präziser: es
wird von den großen Pädagogikern nicht kontrolliert; sie
sind weder im Besitz der Kriterien nodi auch von der Ein-
40
Stellung erfaßt, die realen Wirkungen ihrer Mittel, deren
Zweckrationalität zu prüfen. Ihr Urteil über ihre Resultate
ist intuitiv; es ist in seinen tieferen Schichten vom Unbe¬
wußten determiniert, in seinen oberen beeinflußt von Liebe,
Neigung, Haß und Abneigung gegen den Zögling, von den
Wünsdien, den Hoffnungen auf die Möglichkeit einer besseren
Welt, dem Stolz, einen Beitrag zu ihrer Herbeiführung
geleistet zu haben.
Aber es mag dieser Vorwurf der Einschränkungen bedürfen,
sei er selbst von Grund auf und in seinem ganzen Umfang
falsdi, so gilt er um so gewisser nach einer kleinen Wendung.
Selbst die empirischen Grundlagen für das Erfolgsurteil sind auf
seiten der Mittel nicht gegeben. Denn ließe der Erfolg
sich sogar schlüssig erweisen, es verbliebe der Nachweis, ob
er durch die vermeintlichen Mittel erreicht wurde. Die Mög¬
lichkeit ist offen, daß Faktoren zusammengewirkt haben, die
in der Lehre des Pädagogikers gar nidit, ungenügend oder
falsch cingesdiätzt worden w'aren. Die Erziehlehren knüpfen
den Erfolg an diese oder jene Einzelmaßnahme, V erhaltungs¬
weiße. Gelegentlidi an ein System solcher, aber zahllose
Umstände, die in der realen Erzielnmgssituation außer den
explizite bedachten, mit wirken, werden gar nicht erwogen.
Gesetzt, des Pestalozzi Zöglinge erreidicn des Pestalozzi
Erziehungsziel. Wer entscheidet, wer prüft, wer fragt nur
erustlidi, ob dies des Pestalozzi Methode oder dieses liebe¬
starken Mannes Charisma zu danken ist? Es gibt nicht wenig
Gründe, die eben dies vermuten lassen. Hier sind die Päda-
gogiker bescheiden, bis zur Demut. Die Einmaligkeit des
Erfolges, der mit den Wirkungen ihrer Person gegeben ist,
die verhältnismäßige Gleichgültigkeit der Methode gegen¬
über den gestaltenden Kräften, die von ihrer Person, unab¬
hängig von ihren vermeintlichen Mitteln ausgehen, sehen sie
nidu. Sidi stellen sie hinter die Methode. Unangebrachte
41
Selbstlosigkeit, die nicht geeignet ist, die Fehler zu ver¬
mindern, die der Durchbruch des Unbewußten mit seinen
höchstpersönlichen Tendenzen und Determinanten bei der
Zielsetzung, bei der Methodenerfindung, bei der Erfolgs¬
beurteilung verursachten; Sdieinselbstlosigkeit, die dieser Fehler
Folgen ins Gigantische vermehrt, indem sie alle Aufmerk¬
samkeit, alles Interesse, alle Affekte der Jünger und der
Feinde auf die - vielleicht wertlose, gewiß banale und über¬
schätzte - Methode lenkt. Die großen Pädagogiker üben
charismatische Wirkungen auf ihre Zeitgenossen aus, ihnen
verdanken sie das Prädikat groß; es ist mehr als wahrschein¬
lich, daß diese persönliche Wirkung nicht vor den Kindern
haltmacht, sondern daß sie bei ihnen noch deutlicher und
intensiver zur Geltung kommt. Dennodi sei bei weitem
nicht, der künftigen wissenschaftlichen Untersuchung vor¬
greifend, behauptet, dieser Faktor sei allein oder beträcht¬
lich entscheidend. An ihm werde nur illustriert, wie es not¬
tut, den Erfolgs wert der einzelnen Methode und der Methoden -
Systeme sorgfältig zu analysieren, wie ohne diese Analyse ein
begründetes sicheres Urteil über die Zwedcrationalität eines
pädagogisdien Mittels nicht abgegeben werden kann, wie die
Pädagogiker und mit ihr die Pädagogik weit davon entfernt
sind, diese allein fruditbare Haltung wissenschaftlicher Kritik
und Einschränkung ihrer Intuitionen, ihrer Autismen, ein-
zunehmen.
Die Anerkennung all dieser Vorwürfe durdi den Leser
wird weniger durch den Mangel ausführlich belegter Argu¬
mentation als durch ein affektives Element erschwert. Der
Leser mutet sich selbst und dem Autor nicht zu, wir könnten
hier in diesem Budi etwas gefunden haben, das all den —
doch immerhin ungewöhnlichen — Köpfen, die die Pädagogik
geschaffen haben, entgangen sein sollte. Es scheint ihm, wenn
ich recht hätte, stünden wir an der Schwelle einer neuen
42
Epodie der Erziehung. Und er fragt sehr ungläubig und
bescheiden, wie sollte dies möglidi sein, daß man in zwei
Jahrhunderten nicht bemerkte, die Pädagogik sei ein Luft¬
gebäude? Wie könnte so überflüssiges Tun, als weldies sich,
wenn idi nur Recht habe, die ganze Pädagogik erwiese, nicht
als einmaliges Ereignis, nicht als Irrtum einer kurzen Periode,
sondern als anhaltend geglaubte Übung zahlloser Menschen,
die dodi gewiß ebenso klug waren als wir vielleicht sind,
erhalten?
Nun, mancher andere Aberglaube hielt audi Jahrhunderte
stand und ist eines Tages durchschaut worden; und die ihn
geübt hatten, waren nicht dümmer, nidit unbedeutender als
die ihn gestürzt haben. Es wäre audi nidit sonderbar, wenn
ein Autor behauptete, er führe eine neue Epodie herbei,
und er Einige fände, die es glaubten, und erfahrungsgemäß
hat audi gelegentlich ein Autor mit dieser seiner Behauptung
recht gehabt. Also es gäbe allerhand Beruhigendes und Über¬
zeugendes zu sagen. Aber idi bin in der angenehmen Lage
auf diesem Glatteis der Argumente nidit tanzen zu müssen.
Idi kann affektiv beruhigen. Diese von mir nun lange genug
gelästerte Pädagogik war und ist keineswegs wertlos; es ist
nidit im mindesten erstaunlich, wenn sie herrschen konnte,
wenn sie nodi herrschen kann. Es ist kein Beweis meiner
besonderen Fälligkeiten, wenn idi schrieb, was man eben
gelesen hat. Der Leser übernimmt sich nicht, wenn er mir
glaubt; und wir stehen nidit an der Schwelle einer neuen
Epodie, gewiß sind nidit wir es, die diese Schwelle zubehauen
und gelegt haben. Bestenfalls sind wir über sie gestolpert
und haben, aus Nase und Mund blutend, von ihrer Existenz
Kenntnis nehmen müssen. Andere sind nicht so bös hin¬
gefallen. Auf unseren Hochmut folgte bescheidene Einsicht,
und dazwischen liegt unser fall.
Die Pädagogik, so wie sie wurde und ist, hat eine bestimmte
43
Funktion, die gerade an jene Eigensdiaften gebunden ist,
weldie wir ihr vor werfen, die sie, unbeschadet der Fehler, weldie
ihr unserer Meinung nach anhaften, erfüllen kann. Die
Pädagogik, wie sie ist, entspringt einer Reihe von psychi¬
schen und sozialen Bedingungen, die in unserer, in der Zeit
der unwissensdiaftiidien Pädagogik, gegeben sind, sie ist ein
Instrument gewisser sozialer und psychischer Tendenzen
unserer Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen. Sie
ist ein taugliches Instrument gerade durch ihre Mängel. Es
besteht hier eine Relation, die zu verstehen und zu beschreiben,
Aufgabe einer Tatsachenwissenschaft ist. Ich habe die Resul¬
tate solcher wissenschaftlicher Untersudiung nicht wissen¬
schaftlich konstatierend, sondern wertend vorgetragen. Man
kann dieser W crtung die polar konträre entgegensetzen.
Entscheidend für diese Wahl ist, ob man die sozialen und
psychischen Kräfte, die diese Pädagogik verlangen, akzep¬
tiert, als unvermeidlich gegebene hinnimmt oder als gewollte
bejaht, oder ob man sie als variabel beurteilt und sie
bekämpft. Verneint man sie, so wird man bemüht sein, sie
ihrer Werkzeuge zu berauben. Die Pädagogik ist ein solches
Werkzeug, so lange diese ihre Funktion unerkannt ist.
Welches sind die geheimnisvoll angedeuteten Kräfte, deren
Instrument die unwissenschaftliche Pädagogik ist, von deren
Bejahung oder Verneinung diese Pädagogik ihren Wert oder
Unwert, Gegenwert sogar, erhält? Wir werden die Funktion
der Pädagogik verstehen, wenn wir das Wesen und die
Funktion der Erziehung begriffen haben. Die folgenden
Kapitel wollen dazu beitragen. Diesen Abschnitt zu beschließen,
genügt vielleicht die beruhigende Versicherung an den Leser:
es steht ihm frei, die Wertung der Pädagogik anzunehmen,
die jede Lehrerbildungsanstalt tradiert, es steht ihm frei,
meine Verurteilung der Pädagogik zu verurteilen, er möge
sich aber erst die Einsicht holen, daß er sich so oder so
44
zugleich für eine Partei in den heutigen sozialen Weltkämpfen
und gegen seinen Willen möglicherweise entschieden hat, und
möge begreifen, auf welche Seite der Welt er geraten ist,
unwissend, was er tut. Hätte ich nicht die Einmischung all
dieser Wertfragen verhindern können? Hätte ich nicht ruhig
und sachlich die Bezüge zwischen Erziehung — Psyche —
Gesellsdiaft vortragen können und daher auch sollen? Ich
glaube nicht, denn der wissenschaftliche Glaube hatte den
Lesern doch gefehlt, die anders werten als idi. L nd warum
sollte ich meinen Gleichwertenden, den Genossen in dem
heutigen Kampf, dann nicht die Langeweile ersparen?
45
II
VORAUSSETZUNG UND FUNKTION
DER ERZIEHUNG
Haben wir uns von den Forderungen befreit, die der Er¬
ziehung durch die Pädagogik zugemutet werden, indem wir
erkannten, daß sie die letzte Instanz ist, die imstande wäre,
die Grenzen der Erziehung zu ziehen, da sie ja vielmehr
sidi vermißt, die Grenzsteine ins unendliche All zu ver¬
setzen, so können wir uns nunmehr der Erziehung selbst,
wie sie wirklich ist, zuwenden. Wir werden versuchen, ihre
Voraussetzungen und ihre Funktion in der Gesellschaft zu
erkennen, in der Hoffnung, aus dieser Betrachtung zu
erfahren, was ihre Grenzen derzeit sind. Daraus erst °wird
sich die Basis für eine Erörterung ergeben, wie weit diese
heute gegebenen Grenzen auch ihre notwendigen sind.
Die erste Voraussetzung der Erziehung ist in einer Natur-
tatsadie gegeben, der ontogeneti sehen Entwicklung. Wir
mögen sie als selbstverständlich hinnehmen oder als kapri¬
ziöse Wunderlichkeit der Natur bestaunen oder in irgend¬
einer Weise in verständliche Zusammenhänge einreihen, sie
* st gegeben und nur mit ihr Erziehung als ein Prozeß von
allgemeiner Geltung. Kämen die Kinder als körperlich,
geistig und sozial reife Individuen zur Welt, so gäbe es
46
keine Erziehung, denn all das, was die Erziehung leisten
soll und zu leisten scheint: die Sicherung, Beeinflussung und
Veränderung einer bestimmten körperlichen, geistigen und
sozialen Entwiddung des Kindes, wäre durch die Mechanismen
der Vererbung erreidit oder durch jene Vorgänge ersetzt,
die vor der Geburt die Struktur des Neugeborenen determi¬
niert hatten. Da es nun aber Kindheit - ontogenetische
postnatale Entwiddung - gibt, ist Erziehung als unvermeid¬
liche soziale Tatsache gegeben.
Die soziale Tatsache will betont sein. Eine Kindheit,
einsam verlaufend, erzwingt keine Erziehung. Hier ist kein
fingiertes Beispiel im Kreise der Mensdiheit auszudenken;
weil den Menschen von seinen sozialen Bezügen unabhängig
vorzustellen unmöglich ist; das Wesen, mit dem sich dann
die Phantasie befaßte, wäre kein menschliches mehr. Aber
es gibt Tiergattungen, ja Klassen, genug bei denen die
Kindheit die eigentlidie Lebenszeit ausfüllt, monatelang
dauert, und zwar nadigeburtlidi, während der Erwachsenheit
nur wenig Tage, Stunden Zeit gegeben ist. So etwa bei
Sdimetterlingen. Und trotz der bestehenden Tatsache Kind¬
heit gibt es nichts, was als Erziehungsprozeß anzusprechen
wäre, weil diese Kindheit nidit in Gesellschaft verlebt wird.
Die Kindheit verläuft als Resultat der angeborenen Reaktions¬
tendenzen und -Weisen auf die Vorgefundenen konkreten,
zufälligen oder allgemeinen Lebens umstände. Erziehung gibt
cs nur dort, aber überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft
abläuft. Ihre Voraussetzungen sind diese zwei: die biologische
und die soziale Tatsache.
Diese Formel bedarf noch einer Einschränkung, soll sie
wirklidi allgemein gelten. Man erlaube eine Fiktion. Wir
suchen ja die innerste Grenze, den Fall, in dem Erziehung
gewißlich statthat; wie anders sollen wir sie finden, als durch
Konstruktion solcher, in denen sie nicht wäre; so erst
47
prüfen wir, ob ein solcher Fall nodi ein menschlicher wäre.
Gesetzt also, die Mutter legte ein schönes, großes Ei; so
lächerlich wir diese Phantasie finden mögen, sie muß doch
etwas Verlockendes in sich bergen, versidiert doch der gute
Lykosthenes in seinem Wundertheater 1557 mehrmals:
,So sagt man das inn Selenitide die weyber nit gebären wie
andere Frau wen, sonder sie legen eyer wie anders geflügel,
die selbigen brüten sie auß, und werden menschen so auß
denselben schalen schlieffen, größer dann sonst ftinffzehen.
Glaub wohl Lucianus hab deren ettlich im Morland ge¬
sehen.“ Und sehr überzeugende Holzschnitte sichern den
Fall. Ferner sei in Selenitide, was Lucianus nur zu
berichten vergaß, die Sitte, daß alle Mütter die gelegten
Eier an einem Ort, weitab von den Behausungen des
Stammes niederlegen. Die jungen Menschlein, die aus den
Eiern kriechen, so unseren Einjährigen entsprechend,
leben nun, indem sie entsprechend ihren angeborenen
Instinkten und den konkreten Bedingungen der Biosphäre
handeln, wachsen und sich' verändern, bis sie ihrem
Instinkt entsprechend nach einigen Jahren eine weite Wande¬
rung antreten, an deren Ende sie sich in den Armen ihrer
Väter und Mütter finden, die bereits unruhig auf sie warten.
In diesem Grenzfalle wäre Kindheit und Gesellsdiaft, aber
dennoch keine Erziehung, wenigstens keine in den Jahren
zwischen der Geburt und der Beendigung jener Wander¬
schaft. Denn die Gesellsdiafl, in der diese Kinder auf-
wüchsen, wäre eine reine Alter sk lassengesell sdia ft, die völlig
dem physisdien, psydiischen, geistigen Niveau ihrer Bürger
entspriait. Es gibt in ihr keine Erwachsenen. Erst deren
Vorhandensein wird der Gesellschaft eine Struktur geben,
in der die Erziehung ihren Platz findet. Kindheit, in einer
Erwachsenen gesellsdiaft verlaufend, das ist die Voraussetzung
für die Erziehung.
48
Verlassen wir die Selenitiden und anderes Getier. So
mannigfaltig menschliche Gesellsdiaften strukturiert sein
mögen, das Kind hat von Geburt an eine Stelle in ihnen.
Es muß eine bestimmte Menge Arbeit für es von der
Gesellschaft geleistet werden, sie hat irgendwelche Einridi-
tungen, die nur wegen der Entwicklungstatsadie bestehen,
gewisse Einstellungen, Verhaltungen, Ansdiauungen über
sie. Die Kindheit ist irgendwie iin Aufbau der Gesellschaft
berücksichtigt. Die Gesellschaft hat irgendwie auf die Ent-
widdungstatsadie reagiert. Idi schlage vor, diese Reaktionen
in ihrer Gänze Erziehung zu nennen. Die Erziehung ist da¬
nach die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die
Entwicklungstatsadie.
Der Begriff der Erziehung erfährt durch diese Definition
gewiß eine ungewohnte Erweiterung, die aber nicht un¬
erwartet sein kann, denn betrachtet man die Erziehung als
gesellschaftlichen Prozeß und nidit wie die Pädagogik als
System von Normen und Anweisungen, so wird der Umfang
der zu betrachtenden und in einem Begriff zu vereinenden
Erscheinungen natürlicherweise größer. Der Pädagogik wird,
ein extremes Beispiel zu geben, die sehr differente \V eise,
in der verschiedene Zeiten, Klassen, V ölker ihre Kindei
bekleiden (Kindertracht und -Mode), nicht als Erziehungs-
faktum erscheinen, sic wird darüber nicht geordnet nach-
denken, während unsere Betraditungsweise — nennen wir
sie die erziehungswisscnschaftlidie — hier eine Reaktion der
Gesellschaft auf die Tatsadie Kindheit sieht, also ein be-
aditenswertes Objekt ihrer Bemühungen. Der Grund für
dieses unterschiedliche Verhalten liegt keineswegs darin, daß
die Kindertradit kein Stück der Erziehung i s t, sondern daß
die Pädagogik sie nicht als soldie wertet. Sie setzt voraus,
- woher hat sie das nur? aber so ist sie eben; ihr gibt es
Gott als der Seinigen im Schlafe, - daß diese Maßnahmen
Bern fei d, Sisyphos 4
49
zur Erreichung ihrer Ziele irrelevant sind. Wollen wir werte¬
frei betrachten, so ist zu prüfen, ob diese Irrelevanz besteht.
Dies kann nur Aufgabe der Erziehungswissenschaft sein.
Sie wird beurteilen, ob es „gute” oder „schlechte” Erziehung
in Bezug auf ein bestimmtes Ziel ist, aber Erziehung bleibt
es auf jeden Fall: eine gesellschaftliche Maßnahme gegen¬
über Kindern. Von der Pädagogik und ihren Wertungen
befreit, haben wir gar keine andere Möglichkeit, als alle
spezifisch Kindern geltenden Maßnahmen der Gesellschaft
Erziehung zu nennen. Oder, da es ja auf die Definition und
den Terminus nicht ankommt, als Erziehung zu behandeln,
d. h. in diesem Zusammenhang: ihre Funktion zu verstehen.
Was die Pädagogik Erziehung nennt, die bewußte, die Er¬
ziehung im engeren Sinne ist ein Spezialfall, dessen spezi¬
fische Funktion zu untersuchen ist. Diese bewußte Erziehung
ist ein historisch spätes Produkt. Wie sollen wir es verstehen,
wenn wir die Funktionen nicht kennen, aus denen es sich
differenzierte? Es gab doch - und es gibt - Gesellschafts¬
strukturen, die Erziehung im engeren Sinne nicht kennen,
und doch haben sie organisierten Raum für die Kindheit,
und doch werden in ihnen ganz dieselben Bräuche gepflogen,
die später bewußte Erziehung heißen. Ist denn ein Unter¬
schied zwischen dem strengen Blick, den ein erboster
Kaffervater seinem Knaben zu wirft, und dem mahnend
strafenden Blick des Pestalozzi, weil dieser als ein zum
idealen Ziel führendes Mittel gepriesen wird, jener aber
gänzlich ohne Reflexion und ohne Ziel aus erst zu findenden
Gründen geschleudert wurde? Wir mißtrauen der Pädagogik
und glauben nicht, daß die Aufgaben, die sie der Erziehung
setzt, auch ihre wirkliche gesellschaftliche Funktion sind. Wir
ahnen, daß diese Funktion verschleiert, unbekannt bleiben soll.
Warum sollen wir uns an die Definition der Pädagogik halten?
Zweifellos verhindert sie die Erkenntnis der F unktion der Er-
50
Ziehung im engeren Sinn, indem sie Fakta der Erziehung nadi
gewissen Werten und Normen sich zurcchnet oder von sich aus-
sdiließt. Und wenn die bewußte Erziehung wenigstens scharf von
der übrigen abgrenzbar wäre, dann würden wir eher den Schritt
der Erweiterung bedenken. Der Übergang aber ist stetig,
alles fließt, wir fassen nirgends ein Festes, Einheitliches. So
versuchen wir, beruhigt, wie weit uns die loseste, um¬
fassendste Formel führt. Vielleicht gibt es ein Prinzip, das
alle mannigfaltigen Reaktionen einer Gesellsdiaft auf die
Entwiddungstatsache, ihre ganze Erziehung also, einheitlich
determiniert, treibt, regelt. Dann freilidi wäre die termino¬
logische Erweiterung zugleich eine Erkenntnis.
Auf diese Möglichkeit einmal aufmerksam gemacht, wird
sie durdi den flüchtigsten Blick auf Erziehungs- und Kultur¬
geschichte bereits plausibel. Die zweite Hälfte des XVIII. Jahr¬
hunderts, das jene Umwälzungen der Pädagogik gebradit
hat, die durch Namen wie Rousseau und Pestalozzi bezeichnet
werden, die das Schulwesen im heutigen Sinn schuf, sie hat
auch .lugendsdiriften und Kinderkleidung, Kinderzimmer und
Kinderrecht, die Auffassung vom Kind in der Literatur und
Kunst, in Wirtschaft und Politik wesentlich verändert, sie hat
die grundsätzliche Veränderung der Einstellung der All¬
gemeinheit wenigstens begründet. Alle diese nicht eigentlidi
zur Erziehung im engeren Sinne gehörigen Gebiete stehen,
so scheint es, in einem gegenseitigen Zusammenhang, sie
sind funktional miteinander verknüpft, auch wenn diese
gegenseitige Abhängigkeit dem Zeitalter völlig unbewußt ist.
Und diese Änderungen in der Erziehung fallen mit großen
sozialen und kulturellen Wandlungen der Gesellschaft zu¬
sammen, sie gehören zu jenen Bewegungen, die in die
Revolution mündeten, die nach ihr wirksam und gestaltend
zu werden begannen. Sie stehen also - scheint es weiter -
in funktionalem Zusammenhang mit den gesellschaftsbildenden
4 *
5*
und -umhandelnden Kräften, letzten Endes mit der Form
und den 1 endenzen des wirtschaftlichen Prod uk tionsprozesses.
Und dies gilt keineswegs nur für die revolutionäre Epoche
des ausgehenden Kapitalismus seit 1789, sondern wo und
wann immer Wandlungen der Erziehung im engeren Wort¬
sinn zu sehen sind, dort finden sich zugleidi, voraufgehend
oder nachfolgend, entsprechende Wandlungen der Erziehung
in unserem weiteren Sinn. Jene ist kein isoliertes Phänomen,
sondern Symptom oder Folge einer tieferen Wandlung, fast
so sehr, daß man versucht wäre, zu sagen, einer veränderten
Reaktion der Gesellschaft auf die Entwiddungstatsadie.
Ein sehr merkwürdiges, von der Pädagogik gänzlich
unbeachtetes L aktum hemmt uns so zu allgemein zu formu¬
lieren und läßt uns einen wesentlich komplizierteren Tatbestand
erwarten: Es gibt Konstanten in der Erziehung. Erziehungs¬
maßnahmen und Einrichtungen, die so alt sind wie Erziehung
selbst, so alt demnach als die Menschheit, die im ganzen
Lauf der Gesdiidite sich völlig unverändert erhalten haben,
denen keine Änderung des Produktionsprozesses, kein neues
Zeitalter, keine Religion, nidit Revolution, nicht die grund-
stürzende kulturelle Wandlung etwas anhaben konnten, die
bei jeder Rasse, in jedem Volk, in jeder Klasse, in jeder ihrer
Entwicklungsstufen völlig gleichartig sind.
Diese Konstante durchzieht alle variierenden Erziehungs¬
maßnahmen und -einriehtungen. Wir werden sie natürlidi
als Eigenschaft jener Reaktion betrachten, deren Gesamtheit
die Erziehung ist. Die Reaktion besteht aus zwei Gruppen
von Erziehungshandlungen (und - einrichtungen), konstanten
und variablen. Man begreift, daß diese Unterscheidung sehr
wichtig ist für die Rationalisierung der Erziehung. Denn sie
kann uns belehren, daß alle Änderungsbestrebungen völlig
hoffnungslos sind, soweit sie sich auf den konstanten Faktor
der Reaktion beziehen - wenn dies konstant mehr sein
52
sollte als eine zufällige historlsdie Tatsadie, und sie lehrt
uns das Augenmerk, Forsdiung und Bemühung auf die
Schlüsselstellung riditen, wenn |ene Konstanz endlidi zu
einer bloß nodi historisdi interessanten Ersdieinung
werden soll.
Die konstante Reaktion finden wir besonders aufdringlkh
bei den Erziehungsphänomenen, die sidi in der Paargruppe
ergeben, wenn eine Erziehungshandhing von einem einzelnen
Erzieher zu einem einzelnen Kinde abläuft, dieser sei nun
V ater, Mutter, Erzieher oder sonst eine erziehende, erwadisene
(gegebenenfalls relativ erwadisene) Person. Wo immer diese
Paargruppe hergestellt ist, ergibt sidi die Müglidikeit des
Konfliktes, daß der Wille des Erziehers dem Willen des
Kindes nicht entspridit - idi denke hier rein formal, ohne
Erwägung der Ursadien des Konfliktes. Der Erzieher wird
Mittel suchen, den widerspenstigen Willen des Kindes auszu-
sdialten. Er habe in einem konkreten Fall sidi des Mittels
bedient, dem Kinde, solange es widersteht, Unlust zuzufügen;
er straft es, heißt das. Unter diesen Strafen sind einige
konstante, die allemal unter allen Varianten Erziehungs¬
bedingungen auftreten können, nämlidi jene psychischen
Reaktionen, die im Falle der Störung des eigenen Willens
der entstandene Affekt erzeugt, und die ausgelebt werden,
wenn keine hemmenden Bedingungen vorliegen. Die kürper-
lidie Aggression wird jedem feindseligen Affekt folgen, wenn
nidit die Angst vor dem Gegner sie hemmt, oder die Angst
vor anderen folgen dieser Hemmungslosigkeit. In der isolierten
Paargruppe fallen alle hemmenden Instanzen fort, denn der
Erwadisene hat keine Angst vor dem Kinde. Der Affekt hat
seinen Lauf,audi dann, wenn er nidit rational ist, der Zweck nicht
garantiert, ja selbst ausgesdilossen ist, denn alle Zwecke erlö¬
schen vor dem Affekt. Er setzt einen neuen Zweck an ihre Stelle,
den: seine triebgemäßen motorisdien Abfuhren auszuleben.
53
Die Konflikte sowohl wie das Fehlen der hemmenden In¬
stanzen gehören zur Entwicklungstatsadie, die Reaktion darauf
ist gewiß eine Erziehungstatsadie. Konflikte zwischen dem
kindlichen Willen und dem des Erwadisenen müssen in der
Paargruppe entstehen, weil Kind sein geradezu heißt: rück¬
sichtslos der eigenen Lust leben - und die Gruppe nidit so
strukturiert ist, nicht sein kann, daß jeder Lu st wünsch des
Kindes in ihr erfüllbar wäre. Das Kind ist andererseits
machtlos, da die Madit letzten Endes auf der physischen
Gewalt beruht. Der Erwachsene braudit keine Furdit vor ihm
zu haben, die wichtigste und älteste Hemmung des freien
Affektlaufes fällt demnach weg. Wo ideologisdie oder mo¬
ralische Bedenken irgendwelcher Art die Furcht ersetzen, da
liegt kaum mehr eine reine Paargruppe vor, da ist sie
durchsetzt von den Wirkungen ihr übergeordneter gesell-
schaftlidier Gruppen. Aber wer glaubt, daß diese Ersatz¬
motive der Hemmung wirklich und in großem Umfang und
auf die Dauer wirksam sind? Der Mensch ist Sklave der
seelischen Abläufe in ihm, aus denen er schließlich besteht.
Je gehemmter sein Affektleben in den Gruppen abläuft, in
denen sein Leben auf dem Spiel steht, — in denen seiner
Miterw adisenen steht es auf dem Spiel, sie können ihn zum
Hungertod, zum Seelentod verurteilen, wenn er ihre weislich
gesetzten Grenzen überspringt, sie können es ohne Gerichts¬
verhandlung und Spruch, ohne es zu gestehen und ohne daß
sie als Ursache sichtbar würden, - je stärker Furdit und
Ideologie, Moral, Religion das ursprünglidie Seelenleben der
Erwachsenen einer Gesellschaft einengt, um so eher und lieber
werden sie von der Furdit befreit — vor dem Kinde also —
sidi auch noch von den Furchtersätzen zu befreien wissen,
hier wenigstens aus dem Vollen, aus den 'Liefen ihres Affektes
zu leben. Wie leicht wird sich eine Philosophie finden, die
solchen Ausbruch — Ausbruch sei ein beschreibendes, kein
54
wertendes Wort - reditfertigt, als unfehlbare Methode den
von ihr deduzierten letzten Erziehungszwedt 7,11 erreichen.
All dies erwogen; wer zweifelt noch, es werden wo immer,
wann immer Mensdien (nidit Aifcn, nidit Engel) in der Paar¬
gruppe wirken, als ewige Konstante den ungebrochenen
Ausbruch des erwachsenen Affektes vorfinden, w r er wird nicht
ungläubig staunen, wenn ihm anderes zu erwarten zugemutet
würde.
Der Leser, den idi mir als Bürger unseres Halbwertjahr¬
hunderts vorstellen muß, solange er sich mir nidit als anderen
vorgestellt hat, empfindet sidicrlich, daß idi „schimpfe , daß
ich es anders haben mödite. Idi muß midi daher bemühen,
jede Möglidikeit des Mißverständnisses zu vermeiden. Darum
sei aufmerksam gemadit, Affekt ist so wenig etw'as Unan¬
ständiges als seine Ungebrochenheit notwendig ein Böses sein
muß. Was für die Strafen gilt, die Aggressionsaffekten ent¬
springen, gilt gleicherweise für alle jene milden Formen der
Erziehung (in der Paargruppe), die der Liebe entspringen.
Sie und ihre ungebrochene Äußerung ist gleidiialls eine
konstante Reaktion in der Paargruppe. All das Gesagte gilt
auch für sie. Audi daß ungebrochene Liebcsübung Redit-
fertigung bei Philosophie und Pädagogik sudit. Und - braudit
es der Betonung? — findet. Heute a u di iindet. Die Reform¬
pädagogik predigt das Evangelium der Liebe in der Erziehung*
idi lese es gern und übe es w'illig. Aber daß dieses zweck-
rationaler wäre als die Haßpädagogik, das ist unriditig. Es ist
zumindest nicht entsdiieden. Daß es neu wäre, ist sidier
unriditig. Beide Formen sind Konstanten. Unvermcidlidie.
Denn auch dies gilt für die unendlich sympathischere, aber
darum keineswegs minder tiefen Sdiiditen entquellende Liebe,
daß sie mit der Entwidtlun gstatsadie gegeben ist. Kinder
werden geliebt, aus keinem anderen Grund sdion, als weil
sie Kinder sind. Und die hemmenden Instanzen sind gegen-
55
über dieser Liebe milder als gegenüber der Liebe zu den
Miterwadisenen. Diese ist in engste Grenzen gebannt, während
jene in breiteren Bahnen fließt. In unserer Zeit ist - paradox
genug — gerade die Liebesreaktion gehemmter als in anderen.
Die Indianer haben eine tiefe Scheu davor, das Kind irgend
empfmdlidi zu strafen; als letztes Mittel der Disziplinierung
ritzen sie Ieidit die Hand des schlafenden Kindes und zeigen
ihm morgens das Mal, mit dem sie Manitou zeichnete. Bei
uns werden Sdiulmeister verjagt, aus keinem anderen Grunde,
als dem, daß sie zu wenig Zucht - mit welchen Mitteln, gilt
beinahe gleidi - zu halten wußten. Wir haben Furcht vor
ungebrochener Liebe. Mehr Furcht als vor ungebrodienem
Haß. Mit Recht, er gefährdet ein Menschenleben; sie die
herrschende Ordnung und den Aufbau aller Menschenleben:
das Kapital und seine Herrschaft, sagt die Wissenschaft des
großen Marx.
Diesen letzten Satz hätte ich besser nidit sdireiben sollen.
Er ist in diesem Zusammenhang nicht unerläßlich und schlägt
manchem Leser bloß vor den Kopf; die Bretterwand aus
Philosophie, Ethik und anderen soit disant-Kenntnissen aus
dessen Mittel Schulzeit schließt sich dichter bei diesem Schlag
und läßt nodi weniger von den folgenden Sätzen durch, als
ohnedies von ihm zu erwarten gewesen wäre. Schadet mir
jene Bemerkung auch mein* als sie nützt, so wird meine
didaktische Ungeschicklichkeit den Dank der Pädagogik ernten,
denn es wäre einigermaßen ihr Ende, wenn alle Leser frisch
und gläubig die Nutzanwendung der Tatsache der individuellen
psydiologisdien Konstante hörten. Handelt dodi der über¬
wiegende Teil aller Erziehungslehren von der Paargruppe.
Sie ist Lockes, sie ist Rousseaus, sie ist Herbarts pädagogische
L'rsituation, sie ist der wichtigste Bestandteil in Komenskys,
sie ist ein wesentliches Stück der Pestalozzisdien Konstruk¬
tionen. Sie ist das Objekt jeder Erziehungslehre, die über
56
die Erziehung durdi die Eltern nadidenkt, also des meisten,
was von heutiger Pädagogik noch übrigbleibt, wenn man ihr
die Didaktik abtrennt. Und selbst in diese spielt sie nodi
beträditlich hinein. Denn selten nur wird die Schule als eine
besondere Gesellungsform gesehen, aus der sidi eigenartige
Wirkungen und Formen ergeben. Den meisten Pädagogikern
erscheint die Schule, die Sdiulklasse als eine Summe von
Paargruppen; sie beschreiben die Vorgänge in der Schule
daher falsch und fordern Maßnahmen und Einrichtungen, die
sie der Paargruppenerfahrung entnehmen. Die huuptsädi-
lidisten Bemühungen der Pädagogiker gelten den Konstanten
psydiisdien Verhaltens Erwachsener zu Kindern, den unver¬
änderbaren, historisch wenigstens unveränderten Charak¬
teren mcnsdilidier Aktion überhaupt. Die Gesdiidite dieser
Pädagogik ist ein Zusammenlegspiel, bei dem die gleichen
Bestandteile in immer neue Formen gelegt werden, ge¬
legentlich sehr hübsche Figuren, gelegentlich wieder mit
allen Steindien, zuweilen mit den roten und blauen,
ein andermal mit 'den sdiwarzen und grauen gefügt. Daß
die Wirkungen solcher Pädagogik auf die Erziehung nahezu
null sind, leuditet ein. Denn sind jene Affektreaktionen auch
in gewissem Grade beeinflußbar, kaum durdi Lektüre einer
Predigt oder tausender Predigten, die den ewigen Abläulcn
psydiisdien Geschehens ein gedrucktes Wort entgegenhalten.
Dies genüge zur Ergänzung des Kapitels, das die Grenzen
der Pädagogik bestimmte; und in Fortsetzung der Sudie von
Grenzen der Erziehung wollen wir den Eindruck näher
analysieren, den die Kulturgesdiidite gibt; als wäre die indivi¬
duelle psydiisdie Konstante dodi gewisser Variationen fähig.
Es ist doch so, als herrsdie eine Tendenz zur Hemmung der
aggressiven Aktionen, als humanisiere sich die Erziehung in
der Paargruppe. Eine irgendwie gesidierte Erfahrung ist hier
freilich nidit zu gewinnen, denn wir haben keine Kenntnis,
57
keine genügend umfängliche Kenntnis davon, wie vor hundert,
wie vor dreihundert Jahren erzogen wurde. W;ir wissen bei¬
nahe aussdiließlich, wie pädagogisiert wurde. Und haben die
Überzeugung, daß das reale Verhalten der überwiegenden
Massen von den Idealen der Pädagogen w r eit abstand. Polemi¬
sieren sie Ja, predigen sie ja unermüdlidi. Produziert das
XVII. Jahrhundert Predigten an Eltern und Erzieher, die
Kinder nicht zu verwöhnen, zu verzärteln, sie frühzeitig an
Zucht zu gewöhnen (probaterweise durch Züchtigung), so
schreit das XX. Jahrhundert nach dem Recht der Kinder
und predigt ebenso leidensdiaftlich die Liebe zu ihnen. Jenen
Predigern standen Eltern vor Augen, die diesen neuen Pre¬
digern Lust gewesen wären, und sie beschimpften sie. Sollte
es heute solche nicht mehr geben? Erziehen heute alle im
Geschmack des Barock? Unwahrscheinlich. Beide Verhaltens¬
weisen waren heute wie je. Aber jeweils bedarf ein anderes
der ideologischen Rechtfertigung. Vielleicht sind auch die
statistischen Verhältnisse temporär verschieden. Die Zahl der
Menschen mit vorwiegend aggressiven Affekten gegenüber
Kindern könnte zum Beispiel im XIX. Jahrhundert größer
geworden sein oder vielleidit auch abgenommen haben. Je
nachdem, ob die allgemeine Humanisierung der Aggressions¬
äußerungen, die wohl einen gewissen Fortschritt macht, auch
auf die erzieherischen Vorgänge in der Paargruppe direkt
ermäßigend wirkt oder nicht. Solche Ermäßigung ist möglich.
Audi umgekehrte Änderungen sind nicht unwahrscheinlich:
daß eine Zeit oder eine bestimmte soziologische Gruppe
weitergehend als andere, den Liebesaffekt hemmt. Wer italieni¬
sches Volksleben mit deutschem Bürgerleben vergleicht, wird
finden, daß die italienischen Kinder in einem Strom von
mütterlicher und väterlicher Liebe leben, der nicht selten von
ungebrochenem Aggressionsaffekt gestört, dodi voller und
ununterbrochener fließt als bei deutschen Bürgereltern. Aber
5«
all diese Schwankungen sind verhältnismäßig gering, sie sind
nidit sidi er erwiesen und — vielleicht bloß darum — schwer
formulierbar. Die reinen Extremtypen sind selten, die innige
Mischung ist häufig. Wahrscheinlichster Zustand, daß Jeder¬
zeit die überwiegende Menge der Erwachsenen in der Paar-
gruppe dem Mischtypus angehört, so daß derselbe Mensch
sidi inkonsequent, in aufeinanderfolgenden Situationen sidi
verschieden verhalten wird, zwischen Extremen sich bewegen
wird, die ihrerseits in gewissem Abstand von dem in
einer bestimmten Zeit nodi als normal geltenden Verhalten
liegen werden. Audi Handlungen, die über die Grenzen
des eben nodi Anständigen hinausgehen, werden nidit allzu
selten sein, aber an Zahl und Bewertung nidit als gewöhn-
lidie lalle gelten. Überblickt man große Zeiträume der
gesdiiditlidien Entwicklung, so finden sidi Andeutungen, die
als Entwicklungsbahn eine allgemeine Humanisierung for¬
mulieren lassen, also eine gewisse Tendenz, den Aggressions¬
affekt in seiner aktuellen Entladung zu mäßigen, neben der
Tendenz, in gleidier Weise den Ausdruck des Liebesaflektes
zu hemmen. Aber vielleidit täusdien hier die w r enig sdiarf
beschriebenen Tatsachen. Jedenfalls ist deren Deutung so
überaus erschwert, weil die Phänomene der kulturgesdiidite
das Resultat unbekannter Vermengungen von individuellen
und kollektiven Prozessen sind.
Wollen wir diese gesondert studieren, so bieten sidi uns
als geeignete Objekte so merkwürdige gesellsdiaftlidie Ord¬
nungen, wie sie sich bei den zahlreichen Naturvölkern vor-
iinden, die in der Alters kl assengesellsdiaft leben oder deut¬
liche Züge aus dieser Gesell sdiaftsform der Mensdiheit er¬
halten haben. Hier ist das Kind, mit der Mutter, beziehungs¬
weise den Frauen des Stammes aufw adisend, das Objekt des
ungebrodienen Ausdrucks von Liebesaffekten, was natürlidi
nicht ausschließt, daß es gelegentlidi V ersagungen seiner
59
Wünsche erfährt und in mancher Konfliktssituation mit
aggressiven Affekten seiner erwadisenen Umgebung Bekannt¬
schaft macht. Aber die Gelegenheiten zu solchen Konflikts¬
situationen sind verhältnismäßig selten und eine stark zärtlich
gerichtete Liebe der Mutter ist auf das Kind gerichtet. Sdiam-,
Ekel- und Inzestschranken sind gar nicht oder weniger hemmend
zwischen Kind und Mutter aufgerichtet. Ja, selbst solche
Erziehungsmaßnahmen, die uns als ganz selbsverstandliche
und völlig unvermeidlidie ersdieinen, wie die Entwöhnung,
fehlen. Das Kind bleibt an der Mutterbrust, bis ein jüngeres
geboren ist, und teilt dann mit diesem die Genüsse, im
Grunde solange, als es die Muttermilch nidit freiwillig auch
als Zukost verschmäht. Dieses paradiesisdie Mutter-Kind-Idyll
findet ein jähes Ende, wenn jenes Alter erreidit ist, das im
betreffenden \ olk traditionell für die Vorbereitung zur Auf¬
nahme in die männliche erwachsene Gesellschaft bestimmt
ist, also so etwa zwisdien dem siebenten und dreizehnten
Jahre. Die Knaben werden nun den Müttern weggenommen,
und zwar vom Vater oder sonstigen Repräsentanten des
Männerbundes, gelegentlidi gewaltsam. Und sie werden einer
ganz andersgearteten Behandlung unterworfen, der Knaben¬
weihe, dem Pubertäts- oder Initiationsritus. Dessen Dauer,
formen und Inhalte variieren sein* beträchtlich seihst bei
verwandten oder benachbarten Völkern, doch werden allemal
die Knaben abgesondert von der Behausung der Mütter
gehalten, im Männerhaus, in einem eigenen Beschneidungs-
haus, in einem Hain oder im Zauberwald. Sie werden hier
durch Fasten, durch körperliche Torturen aller Art und durch
Unterricht zur eigentlidien Weihe vorbereitet. Diese besteht
im wesentlichen darin, daß die Knaben feierlich und unter
Pomp von ihren Vätern symbolisch getötet und zum Leben,
zum neuen Leben als Männer wiedererweckt werden, sie
erhalten die Stammesabzeichen, Beschneidung, Tätowierung,
60
Zahn-, Lippen-, Ohrenverstümmlungen oder wenigstens einen
neuen Namen und gewinnen damit die Rechte des Mannes,
in erster Linie die Freiheit des Geschlechtsverkehrs, natürlich
nur Jene Freiheit, die die aufnehmende Gesellsdiaft dem
Geschlechtsleben gewährt. Der Grausamkeit entbehrt keine
Form der Knaben weihe, sie ist ein hervorstediender Zug des
ganzen Arrangements. Sie ist nicht selten zu den exquisitesten
Martern gesteigert. So wird die folgende liebenswürdige
Episode aus dem Initionsritus der Koffern (von Ploß) be¬
schrieben: Die zirka vierzehnjährigen Burschen werden in
einer Reihe aufgestcllt; jeder hat ein paar Sandalen in den
Händen; die älteren Leute, mit langen Ruten oder Gerten
bewaffnet, stellen sich vor ihnen auf, bzw. schwingen die
Ruten springend und tanzend. „Willst du den Häuptling
schützen?“ fragen die Tänzer einen Knaben. „Ich will,“ ant¬
wortet dieser und erhält gleich darauf Rutenhiebe, gegen die
er sich mit seinen als Schild gebrauchten Sandalen zu schützen
sucht, die ihm aber doch blutige Streifen auf dem Rücken
zurücklassen. Er springt grinsend umher, darf sich aber nicht
zurüdeziehen. Dann folgt die zweite Frage: „Willst du das
Vieh hüten?“ - „Ja.“ - Und abermals fallen Rutenhiebe auf
seinen Rücken nieder. Nach Überstehung dieser Probe fühlt
sich der junge Kaffer als Mann und gilt als solcher; ohne sie
würde er nie von einem Kaffernmädcfaen geliebt werden. —
In Australien ist das Zahnausschlagen der Höhepunkt der
Zeremonien. Die Jünglinge werden durch ihre Väter in den
Festkreis gebracht, den Kandidaten 1 werden im Kebarrah-
Gesang die Qualen geschildert, denen sie sich unterwerfen
müssen. Dann schreitet man zuin Ausbrechen eines Vorder¬
zahnes. Dies wird so ausgeführt, daß man in einen Baum¬
stamm ein Lodi madit, in weldies man einen Stab von hartem
Holze steckt; dann bringt man den Zahn in Berührung mit
dem Ende des Stabes, indem eine Person den Kopf des Knaben
61
in der richtigen Position hält, worauf eine andere den Kopf
von hinten nadi vorn stoßt. Die Erschütterung bewirkt, daß
der Zahn meist mit einem Teil des anhängenden Zahn¬
fleisches ausfällt. Einige dabeistehende Männer drohen dem
Knaben, ihn sofort zu töten, wenn er Schmerz äußere,
■während andere ihm mit scharfen Steinen lange Streifen auf
den Rücken und auf jede Sdiultcr schneiden. Sobald das
Opfer Klagen laut werden läßt, verkünden die Operateure
mit Geschrei, daß der Unglückliche nicht wert sei, sich unter
die Männer des Stammes zu misdien. Hält aber der junge
Mensch die Qualen ohne Zucken aus, so tritt er hiemit in
den Rang eines Jägers und Streiters ein; man umringt ihn
und übergibt ihm das Mundi, d. i. ein Stückchen kristallheller
Substanz, welches vor den W eibern stets verborgen gehalten
wird. Schließlich begrüßen Männer und Weiber den Auf¬
genommenen, den man mit Schild und Kriegs waffen ausrüstet.
Soldie Riten sind nidit sonderbares Resultat der sadistischen
Verirrung der einzelnen Völker, sondern eine allgemeine
Erzieh ungseinridi tung bei vielen Völkern, mit so vielen
typischen, häufig wiederkehrenden oder auch nie fehlenden
Zügen, daß die Annahme nahe liegt, sie gehören einer gewissen
Gesellschaftsstruktur notwendig zu, und zwar der sogenannten
Altersklassengcseilsdiaft. Diese wieder mag sehr wohl, wie
die Soziologen vermuten, eine allgemeingültige Durdigangs-
stufe menschlicher Entwicklung sein. Sie wäre dann eine der
ältesten, wenn nicht die älteste Gesellsdiaftsstruktur, die wir
aus ihren noch heute vorhandenen Resten voll rekonstruieren
können. Die Riten, aus denen die Proben entnommen sind,
sind streng typische. Es fehlen ihnen manche extreme Züge von
Aggression. Sie sind in zahlreichen mehr weniger leichten
Varianten belegt. Wir wollen auch festhalten, daß die Initi¬
ationsriten die ältesten uns bekannten organisierten Kollektiv¬
maßnahmen der Erwachsenen gegenüber der Kindheit sind.
62
Während die Erziehung des Kindes durdi die Alutier der
Organisierung entbehrt, bloß aus natürlichen, d. h. individual-
psydiologisdi verständlichen konstanten Reaktionen besteht,
keinerlei Erfindungen sozusagen beinhaltet, haben wir in
dieser Aggressionsorgie der Väter Maßnahmen vor uns, die
über die individualpsydiologisdie Verständlichkeit hinaus¬
gehen, Jene ist die Erziehung in der Paargruppe, diese in
einer Mehrheitsgruppe, kollektive Erziehung, organisierte
Erziehung in der Gesellschaft und der Gesellschaft. Im An¬
fang der organisierten Erziehung steht die Aggressionsorgie.
Ja dies ist ihre organisatorisdie Leistung, daß sie die aggressiven
Abläufe aus der Paargruppc herauslöst und sie gesammelt
(und vermehrt, ebenso wie verändert) in einer neuen Gruppen¬
form ausschließlich auf die Kinder wirken läßt. Vergleichen
wir den heutigen Zustand mit diesem ursprünglidien, dann
können wir mit mehr Recht, als bei der Vergleichung einiger
Jahrhunderte, von einer Tendenz zur Humanisierung sprechen.
Freilich entspricht der Humanisierung der Mittel eine Streckung
ihrer Wirkungsdauer. Die primitiven Völker setzen die
Knaben ihren freilich sehr drastisdien Erziehungsmitteln nur
wenige Wochen oder Monate aus, wir unseren, freilich viel
humaneren Mitteln, (4 bis 20 Jahre. Daß wir aber audi nicht
einen Augenblick lang stolz behaupten können, es seien die
Sterne, bis zu denen wir cs gebracht, lassen wir uns darüber
belehren, wie Ritterschlag, Deposition, Firmung, die Auf-
nahmsgebräudic in die Gesellenverbändc der Innungen bis
vor wenigen Jahrzehnten, Ja heute nodi gclcgentlidi völlig
unhumanisierte Initiationsriten treu konservierten.
Der Sinn des Initiationsritus ist aus den individuellen psy¬
chischen Abläufen nidit verständlich zu machen. Die Väter,
die ihn ausüben, verstehen ihn selbst nicht, sie rationalisieren
ihn ohne Prüfung der Realität. Sie sdiieben ihm Zwecke
unter, wie sic ihnen einleuditen. Sie sagen, es handle sidi
63
um Proben der Standhaftigkeit, um Unterricht in Mut und
Ausdauer, um dauernde Einprägung aller Sitten-, Kriegs-,
Moral-, Geschleditsgesetze des Stammes und seiner Gott¬
heiten. Sie benehmen sich dabei ganz wie unsere Pädagogiker.
Einen vorliegenden Brauch rechtfertigen sie, indem sie ihn
nachträglich als Mittel, als einziges taugliches Mittel zu einem
edlen Zweck hinstellen. Dieser Zweck hat aber das Mittel
nicht erzeugt, sondern dessen Gründe sind dem Einzelnen
und seiner Gesellsdiaft imbewußt. Was an ihm psychisch
determiniert ist, so viel oder so wenig es sein mag, wirkt
aus dem Unbewußten. Erst dessen Aufdeckung kann uns die
Determinanten zeigen. Tötung der Knaben lautet der Im¬
perativ des Unbewußten. Die versammelten Väter erfüllen
diesen Befehl nicht. Warum nicht? Wer hindert sie? Vielleicht
haben sie Angst vor den Weibern. Es scheint so, denn sie
schicken sie weg, halten sie gewaltsam fern und schrecken sie
durch Brummer und Katschen. Doch die Gründe sind nicht
sicher erkannt. Genug, sie töten die Knaben nicht, nicht alle
wenigstens, und vir beruhigen uns bei der negativ teleologi¬
schen Formel: sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben
und de facto hat irgendein grausamer Gott sie bis heute an
dieser für alle Beteiligten vielleicht gleich glücklidien Lösung
gehindert. Sie töten also die Knaben nicht, sie wissen gar nicht,
daß sie es wollen, aber der Initiationsritus ist ein einziger
großer symbolischer Tötungs- und Neugeburtsakt.
Was mag das Motiv dieses Tötungstriebes sein, der offenbar
sehr intensiv ist, setzt er doch gewaltige soziale Energien in
Bewegung und weiß sich hinter tausend Entstellungen und
Abschwächungen doch geltend zu machen? Die Väter drohen
dem künftigen Manne: so wird es, aber ohne Ermäßigung und
Entstellung, ganz unsymbolisch und sehr real, dem Vater¬
mörder und Mutterschänder gehen. Der Inzest und der Vater¬
mord (oder der Mord im Clan überhaupt) wird durch diese
64
prophylaktische Talion unvergeßlich cingesdiärft, der Heran¬
wachsenden Generation und der erwachsenen zugleich, die,
so scheint es, immer neuen Versuchungen ausgesetzt ist,
die gewiß, als sie noch unerwadisen war, solche Versudiung
kannte. So ist auch ein Stüde Selbstbestrafung unter den
Motiven dieses ersten gesellschaftlichen Erziehungsaktes. Er
entspringt dem Schuldgefühl, das die Menschheit erwarb, als
sie durch jenen Vatermord in der Urliorde, die totemistisdie
Ordnung, die erste Kulturgesellschaft begründete. Dieses Lr-
verbrechen in Wiederholung zu verhindern, die eigene Ver-
suditheit hiezu zu sühnen, Schuldgefühl zu stiften, zu sichern
und zu betätigen, dient der Initiationsritus. So lehrt der
wissenschaftliche Mythos des grollen Freud.
Dieser letzte Satz war wiederum so überflüssig wie sdlädlidi.
Zwar hat der Leser sdion längst bemerkt, daß die Gedanken¬
gänge dieses Buches von Freud beeinflußt sind, und das hat
vermutlich sein Zutrauen zum Autor und dessen An¬
schauungen nidit vergrößert. Aber er konnte doch bis zu
der eben getanen Bemerkung hoffen, er würde an seiner Stelle,
nachdrücklidist betont, das ihm aus der heutigen Wissenschaft -
lidien Literatur lieb und gewohnt gewordene Sätzchen finden:
Wir stimmen mit Freud in diesem oder jenem Gedanken
überein, ohne die maßlosen Übertreibungen dieses nicht
ganz verdienstlosen Autors zu teilen. Nodi lieber vielleicht
hätte der Leser sogar gelesen: . . . unbeschadet des ener¬
gischsten Protestes gegen die Ausschreitungen der Psycho¬
analyse. Er findet sich enttäuscht und sieht Freud unein¬
geschränkt anerkannt, sein Werk als Grundpfeiler für den
Bau der Erziehungswissensdiaft vorbereitet. Dies wird viel¬
leicht gerade jene unangenehm berühren, die mit Zustimmung
die parallele Bemerkung über Marx gelesen haben und
richtig als des Verfassers Meinung gedeutet haben: das Werk
von Karl Marx sei als Grundpfeiler einer künftigen neuen
Bcrnfcid, Sisyphos 5
65
*
Erziehungswissenschaft zu betraditen — was vermutlidi
wieder den an Freud Interessierten ein starkes Mißfallen
erregt haben dürfte. So wären wir in Gefahr, /.wischen zwei
Grundpfeilern im Wasser oder im grundlosen Baugrund-
sdüamtn zu ersticken, wenn wir uns nidbt entschließen, über
beide Pfeiler die Brücke zu bauen, auf der sich eine bequeme
Sitzgelegenheit mit weiter Aussicht über die ausgedehnte
Landschaft der Erziehung wird einrichten lassen. Solche An¬
lage für den Sitz der Erziehungswissenschaft schwebt seit
Herbart allen pädagogischen Baumeistern vor: über der Ethik
und der Psychologie als Fundamenten errichten sie die all¬
gemeine Pädagogik. Was nun freilich recht unsichere Basen
sind, gut genug, für ein Nachmittagsschläfchen eine Hänge¬
matte dran zu hängen, aber überaus gefährlich und un¬
bequem schwankend als dauernde Wohnstätte. Denn die
Ethik, was brauchte es vieler Worte, um sie als höchst unsoliden
Untergrund zu erweisen? Und die Psychologie, was war sie
vor Freud, was ist sie außerhalb des Freudsdien Werkes
heute nodi anderes als zügellose Spekulation, eitle Projektion
und Verallgemeinerung einer vom Unbewußten geleiteten
und abgelcnkten Selbstbetrachtung außerordentlich kom¬
plizierter, ungewöhnlich nachdenklicher, überempfindlich
selbstversonnener-diese Werte seien zugestanden -Schreib-
tisdimen sehen, deren äußeres Leben oder innere psychische
Struktur die Akzente von den wesentlich wichtigen seelischen
Erscheinungen auf interessante, aber sekundäre Phänomene
verschiebt? Was war sie mehr als oberflächliche, scheinbar
exakte Forschung an Sinnesempfindung, Assoziation und
Denken? Diese Psychologie durch die Lehre Freuds zu er¬
setzen, die Entwicklung, Trieb und Charakter ins Zentrum
ihrer Betrachtung stellt, heißt der Erziehungswissenschaft
überhaupt erst eine Grundlage geben. Sie wird breit und
solid für jedes wünschenswerte Gewicht und die schwindelndste
66
Höhe des künftigen Baues sein, wenn statt der Ethik die
Sozialwissenschaft, und zwar in ihrer härtesten und leben¬
digsten Form, der Marxsdien, die Psydiologie, in ihrer tiefsten
und lebendigsten Form, “ der Freudsdien, ergänzen wird,
über die Motive für die Wahl gerade dieser beiden Forsdier
zu Sdiutzpatronen der neuen Erziehungswissensdiaft wird
noch einiges zu sagen sein. Jetzt genüge dieser Exkurs, und
wir kehren zu den merkwürdigen Erziehungstatsachen des
Initiationsritus und der Kindertötung zurück.
Audi außerhalb der Initiationsriten werden Kinder institutiv,
als gesell sdiaftlidie Einrichtung getötet. Unserem Jahrhundert
scheint das befremdlich, abstoßend, unglaubwürdig. Und doch
ließe sidi ein stattlicher Band mit knappester Darstellung der
Bräuche füllen, die direkt den Kindermord beabsiditigen und
organisierte Bestandteile der Gesellschaft sind, Erziehungs¬
einrichtungen sozusagen der betreffenden Gesellsdiaft, un¬
zweideutige Reaktionen auf die Entwicklungstatsache. Idi
spreche nicht von den Lust-, ltoheits-, Affektakten, die
unsere Zeit wie manche, aber gewiß nidit jede, zum guten
Feil den Verbredicn zuredinet und als solche ahndet, denen
aber so im Lauf der Jahrhunderte ein gigantisches Heer von
Kindern-zum Opfer gefallen ist; sie sind Individualakte, die
nicht in diesem Zusammenhang zu erörtern sind. Eher wäre
an Taten zu denken, wie die des Erzvaters Abraham war,
der, aus Furcht oder Liehe, was bei gottesfürditigen Leuten
nie klar zu entsdieiden ist, sich bereit findet, seinen Sohn
zu opfern und sidi bis heute der Sanktion der Menschheit
erfreut, die nach wie vor höhere Zwecke kennt, denen un¬
bedenklich das Leben des Kindes zu weihen, ja zu opfern
wäre, wobei es dann reichlich Gesdimackssadic ist, ob Ehr-
furdit vor Colt dieser Zweck ist oder die politische Absicht
eines Herodes, die in ungezählten Gemälden unsterblichen
Ruhm gefunden hat, an dem ein frommer Madonnenmaler
5 *
67
allein elf mal durch Meisterwerke der Malerei und Grausam¬
keit mitgewirkt hat, oder die Erpressungstaktik des bösen
Jehova für sein so gänzlich vergeblich aus der ägyptischen
Knechtsdiaft geführtes Volk Israel - indem die Tat nicht als
Verbrechen gewertet wird, zeigt sich die Bereitschaft der
Menschheit, und wäre es unter Bedingungen, die Kinder¬
tötung aus der Sphäre des individuellen Aktes zu heben.
Nicht einmal von Gesellsdiaftskonstruktionen hätten wir hier
aufzählend Gebrauch zu machen, die die Kinder bis zur letzten
Konsequenz dem individualpsychologischen Ablauf des Affektes
eines einzelnen Erwachsenen freigeben, wie das römische
Redit der väterlichen Gewalt. Zu schweigen davon, daß unsere
Zivilisation nicht die einzige ist, die zwar moralisierend und
predigend, aber doch schweigend die Kinderhekatomben er¬
trägt, die als unbeabsichtigte, aber eben mitgewollte, weil
geduldete, Folgen anderen gesellschaftlichen Einrichtungen
und Auseinandersetzungen entspringen, sie seien nun Kriege
oder Fabrikstod, nur daß die europäische Menschheit, vom
dreißigjährigen Kriege befreit, als Symbolum dieser Befreiung,
als Denkstein für die gemordeten Kinder die Stedtenreiter-
klippc prägte, während man im Krieg unseres Jahrhunderts
die verstümmelte Kinderleiche hüben wie drüben als gern
geglaubte Reklame für Kriegsanleihe sah. All das und besser
vielleicht noch als das beweist uns eines Lesers Gefühl, daß
idi hier aus der Rolle falle, meine Skepsis in Predigt und
Sentimentalität verwandle, daß heute und immer die Tötung
von Kindern als gesellschaftlich zugelassene Erscheinung be¬
stand und daß sie von einer Tötungstendenz im Unbewußten
des Einzelnen und seiner Gesellschaft erzeugt oder getragen
wird; es sei denn, wir belasten Gott mit der Verantwortung
für diese und die früheren Welten.
Wir werden nidit geneigt sein, die.se ganze Fülle aus dem
Schuldgefühl der Männer, wie wir kurz für den komplizierten
68
Annahmenkomplex Freuds, den wir oben erwähnten, sagen
wollen, abzuleiten, restlos aus ihm zu erklären. Es würde
uns besser gefallen, einen allgemeinen Trieb, eine für die
männliche Psyche bezeichnende Verhaltungsweise anzunehmen,
deren Urbild Vater Kronos wäre, der seine Söhne verzehrt.
Es ließe sich über diese Möglichkeit wohl reden, ist es doch
auch bei vielen Säugetieren sonst der Brauch, daß der Vater
den Wurf nicht anders zu schätzen weiß, denn als mühelos
zu erwerbenden Zuwachs von vermutlich sehr wohlsdun ecken¬
dem Fleisch in seinem Jagdrevier, das er gern frißt, wenn
ihn nicht die Mutter, gelegentlich in hartem Kampfe, daran
hindert. Die Tatsache braucht uns nicht zu stören, daß diese
männliche Urreaktion auf die Entwicklungstatsache bei nidtt
wenigen Tieren an weiblichen Körperbau gebunden erscheint.
Die neueste Biologie zeigt fortschreitend immer deutlicher,
daß weiblich und männlich Tendenzen sind, die sich gelegent-
lidi an den entgegengesetzten Genitalorganbau knüpfen,
und daß sie ganz allgemein bloß in gewissen Misdiungs-
relationen sich verwirklichen. Heißen wir die gedachte Ur¬
reaktion männlich, so kann damit nicht gesagt sein wollen,
sie fehle nicht gelegentlich einem Manne, und sie käme nicht
gelegentlich einer Frau zu, sondern wir halten damit nur
den Eindruck fest, daß wir eher bei Männern als bei Frauen
sie zu finden erwarten, und daß gewiß dort, wo priiniti\e
Ansätze zu Einrichtungen in der Gesellsdiaft im Sinne diesei
Urreaktion vorhanden sind, wir diese von Männergruppen
getragen sehen.
Von einer männlidien Urreaktion zu sprechen hat aber nur
dann einen Sinn, wenn es gelingt, ihr eine weibliche Reaktion
gegenüberzustellen. Diese Forderung setzt uns nicht in Ver¬
legenheit. Sie ist durdi die Maßnahmen in der Paargruppe
vor dem Initiationsritus cleutlidi hindurch spürbar. Formel¬
haft klar wird sie beim Studium der primitiven Säuglings-
69
1
pilegeformen. Eine von diesen, gewiß die älteste und ur-
sprünglidiste, zeidinet sidi durdi eine Reihe von Merkmalen
aus: das Neugeborene, und ähnlidi der Säugling, wird warm
gehalten durdi Bad, Hüllen und Aufenthaltsort; es wird vor
Lidit, Geräusdi und den mannigfaltigen Reizen der Welt,
die es in seinem wohl verborgenen Sdilafraum als Fötus nicht
erreidien konnten und denen es durdi die Geburt plötzlich
schutzlos preisgegeben wurde, sorgfältig behütet; es liegt in
seiner natürlidien Schlaflage, der embryonalen, im feucht-
warmen Dunstkreis in gedeckter Wiege, einem veritabeln
künstlichen Mutterleib, oder eng an die Mutter gepreßt in
deren Bett, oder selbst tagsüber unmittelbar an ihrem Leib,
mit dem Tragband vor ihre Brust, an ihre Hüfte geschnallt,
oder im Tragsadc an ihren Rücken gehängt; es befindet sich
in sanfter rhythmischer Schaukelbewegung, gewiegt oder den
Rhythmus der mütterlichen Körperbewegungen mitschwingend,
so wie es in utero in bequemer Hängematte hin und her
pendelte, sanft im flüssigen Medium gesdiaukelt.
Es ist, als wäre die Mutter von dem Bestreben geleitet, die
große Trennung, die die Geburt zwischen sie und das Kind
legte, rückgängig zu machen, das Kind sich möglichst körpernah
zu halten, es zärtlich warm zu schützen und es in jener
kaum definierbaren Weise der mütterlichen Sorgfalt zu lieben,
für die die Fötalsituation vielleicht mehr als ein bloßes
biologisdies Analogon ist. Sie ist der polare Gegensatz zur
männlichen Reaktion, die sich bis zur bloßen Tendenz ab-
schwädit, das Kind von der Mutter Körper fern zu halten.
In der Säuglingspflege, die sich vom oben gezeichneten Ur¬
bild entfernt, - und die meisten Völker haben gewisse Züge
sold:er Entfernung im realen Bild ihrer Einriditungen, so
daß das Primitive bloß Ausgangspunkt und ideale Norm ist, —
lassen sich mannigfaltige Grade der Mischung weiblicher
Bräuche mit männlichen vermuten.
70
Der erste Sdrritt des Kindes ist der eigentl.die Wende¬
nunkt der wciblidten Briludie; merkwürdig genug, daß er
ungefähr in die Zeit fallt, in der die Geburt des nad,geborenen
Geschwister» sidr vorbereitet. Nun muß die Körperfernc bis
zu einem gewissen Maß von der Mutter ertragen werden,
die primitive Reaktion wird zur Liebe, die hier wie mmer
■' der Sehnsucht besteht, das Geliebte möglichst kürpemah
zu bringen, sich mit ihm möglichst innig körperlich zu >er-
bbiden.^Die Mutter Hebt ihr Kind wie ein Stüde ihres eigenen
Körpers, das zeitweilig von ihrem übrigen Körpc durd. «
Stück Raum getrennt ist, aber natürhdt nur zei.wdRg^ge
trennt sein darf, soll nicht die Liebe in heftigsten lrennungs
^I)ie'mtinnHdie^und die weibliche Urreaktion sind kollektive
Phänomene. Sie gehören aber audr als individuelles Besitztum
den tiefsten, normalerweise unbewußten, Schlditen der . nzc
Persönlichkeit an. Und wirken von dort aus als unbewußte
individualpsydiologischc Konstanten auf die u tnHivT
zärtlichen oder aggressiven Typus, die wir früher a s
duclle psychologische Konstanten bezeichne«® und nunmeh
als die bewußten von diesen tieferen, den unbewußten, unter-
Verdrängt oder ln den Charakter eingebaut, d.e weibliche
Reaktion wird die zärtlichen Abläufe intensivieren und die
aggressiven ermäßigen, während die männliche Reaktion e
zärtlichen hemmen und die aggressiven verstärken wird.
Wobei die komplizierteren Entwidclungsmöglidikeiten nt lt
zu vergessen sind, daß die verdrängte Reaktionsweise kom-
pensativ die entgegengesetzte verstärken und auch sonst all
jene paradoxen Verhaltungswelsen erzeugen kann, die 1 reud
uns lehrte aus den Mechanismen der Verdrängung zu ver¬
stehen. Audi der Komplikation sei wiederholend gedacht,
daß ein weiblicher Körper die männliche, ein männlicher
71
Körper die weiblidie Reaktionsweise bergen kann, daß beide
im selben Individuum in sehr mannigfaltigen Mischungen
und allerhand Gleidigewichtszuständen wirksam sein können.
Denn all dies rührt nicht an die grundsätzlidie Behauptung:
Das erzieherische Verhalten des einzelnen Erwachsenen, seine
allgemeinen Prinzipien sowohl wie jede konkrete Tat, ist von
individualpsychologischen Konstanten determiniert: den indi¬
viduellen Ablaufsformen seiner Affekte und der Struktur der
Urreaktion in seinem Unbewußten oder seinem Idi. Die reine
Paargruppe ist die günstigste soziale Gegebenheit für das
volle Sidi-Aus wirken dieser Konstanten in jeder einzelnen
Erziehungshandlung.
Es ist, leider, nicht meine Aufgabe, in diesem Buche die
Psychologie der Erziehung zu schreiben, und auch deren
Urgeschichte, die mit ihrer Psychologie ungefähr zusammen¬
fallen dürfte, ist nicht mein Thema; ich muß die Frage,
derentwegen ich mich so tief ins Gestrüpp gänzlich uner¬
forschter Wissensgebiete hineingeschlagen habe, nicht aus
dem Auge verlieren. Die Funktion der Erziehung steht zur
Erörterung. Darum, nicht weil das beigebrachte Material
reichlich genug oder die Hypothesen einleuchtend genug sind,
versuchen wir eine vorläufige Formulierung. Wir sahen Ur-
einriditungen der Erziehung aus psychologischen Gründen
entstehen - Liebe der Weiber zu ihrer Frucht, Vemiditungs-
trieb und Vergeltungsfurcht der Männer - wir sehen diese
psychologischen Motive noch heute wirksam, wenn auch
modifiziert und kompliziert. Wir haben die psychologischen
Determinanten gewisser Erziehungseinrichtungen erfaßt, die
Urreaktionen der Individuen auf die Entwiddungstatsache
iormuliert. Was nun gefragt werden muß, ist die soziale
folge dieser Reaktionen: ihre Funktion. Diese ist unschwer
für die weiblidie Reaktion zu finden; sie sichert den physischen
Bestand, die Fortpflanzung der Gesellschaft. Diese sichernde
72
JS
•I,
Funktion erfüllte sie bereits, wenn es ihr gelang, die mann-
lidie Reaktion ihrer äußersten, ihrer primitivsten Konsequenz
zu berauben. Sie brautht keiner Verankerung in eigenen
weiblich gedachten Institutionen. Sie verbindet sich in kom¬
plizierten Gesellschaftsformen mit den wirtschaftlichen Interessen
der Männer. Sie ist garantiert durch die bisexuelle Psyche
des Menschen, die weibliche Tendenzen in jeder Mannesseele
mitreagieren läßt, die wenigstens dafür sorgt, daß keine
Männergruppe ohne tüchtigen Weiber Verstandesanteil besteht.
Sie ist vielleicht in der Angst der Männer vor den Frauen,
in der Abhängigkeit der Männer von den Frauen als ihren
Liebesobjekten zu tiefst verankert. Sie ist vielleidit das
Resultat einer menschlichen Urordnung, in der das Weibchen,
die Mutter, durdi Körperkraft und Inzestgewährung die
Männdien - ihre Söhne samt und sonders - so energisch im
Zaum zu halten wußte, daß nadi Jahrtausenden nodi die
griechischen Heroen vor den Amazonen zitterten und der
sorgfältige Forscher im XJX. Jahrhundert noch manchen
nadi wirkenden Zug des uralten Mutterrechts aufzuspüren
glaubt. Vielleicht ist aber diese Urzeit nur eine komplizierte
Zwischenepodie. So viel aber ist gewiß uncl darf uns genügen:
institutiv ist die weibliche Reaktion, soweit die Geschichte
zurück- und vorwärtsreicht, für die Erziehung nidit gewesen.
Wo sie ungemischt von männlichen Weisen ausgeübt wird,
ist die Paargruppe ihre prinzipielle Institution, Mutter und Kind.
Was ist aber die Funktion der männlichen Reaktion? Das
wäre nicht leicht zu sagen, wenn ich die Eindrücke und
Phantasien, die mir das Studium der Büdier über die lat-
sadien erst erweckte und dann fortzuspinnen erlaubte, so
darstellen müßte, als hätte ich sie aus den Tatsachen
gewonnen, als erlaubten diese keine andere Anschauung, als
wären sie selbst Tatsachen. Welche bände- und bilderreiche
Geschichte der Kindheit und Jugend müßte ich schreiben.
73
und der intelligente Leser würde ja dodi nur die Auszüge
von fünf Zeilen bis fünf Seiten lesen, die der intelligente
Verleger auf die Budischleife drucken oder in Literaturblättern
verbreiten ließ. Bei so unwichtigen Themen, wie die Erziehung
eben durch jene kleine Bibliothek erweislich ist, genügt doch,
wenn Einer mehr als jene Zeilen und Seiten von ihrer Ge¬
schichte gelesen hat, eben der Autor dieser fünf Zeilen.
Der freiere Ton dieses Buches erlaubt hier summarisdier
zu verfahren, was hier darum keineswegs unwissenschaftlich
ist, weil ich nichts anderes als Einfälle zu Tatsadien gebe,
die Forschungen anregen, eigene vorbereiten wollen, nicht
sich selbst aber als Tatsadien geben wollen. Übrigens nur
solche Einfälle, die jedem Nichtpädagogen als selbstverständlidi
erscheinen und nur dem Pädagogen erst eindringlich gemacht
werden müssen.
Eine Konstruktion, die nur als schematisierender Einfall
gemeint ist, läßt am ehesten die Funktion cler männlichen
Erziehung deutlich machen. Die ursprüngliche Erziehung
dürfen wir uns wie die der Tiere vorstellen; sie ist eine rein
weibliche; das zärtlich geschützte Junge, von der Mutter in
Kürpernähe gehalten, wächst auf und entwickelt sich physisch
und psychisch, indem es die große Rekapitulation der Art-
gesdiichte, die mit der Zeugung ausgelüst wurde, über die
Geburt hinaus fortsetzt. Das heißt, es reift heran; und die
Erziehung sichert dieses in Form, Inhalt, Umfang und Ter¬
minen erbhaft vorausbestimmte Reifen. Wahrsdieinlich fördert
die Erziehung auch diesen biopsychisdien Prozeß, vielleicht
beeinflußt sie ihn auch. Die Frage ist unentscheidbar. Denn
ganz entgegen der populären Ansicht ist es keineswegs aus¬
gemacht, daß z. B. das Sprechenlernen sich anders, als der
Übergang vom Morula- ins Gastrulastadium der Embryonal-
entwiddung, nämlich nicht erbbestimmt vollziehe. Der Einwand,
ein isoliert auf wachsendes Kind schaffe keine Sprache, ist
74
etwa auf dem Niveau einer Argumentation, die behauptete,
der Embryo lerne das Wadisen von seiner Mutter, denn aus
ihrem Leib geschnitten, wachse er nidit weiter. Es ist etwas
an diesem Einwand, aber nur etwas, und soviel ist auch an
dem früheren. Nämlich daß die erbbestimmten Entwicklungs-
richtungcn und Inhalte der Auslösungen, der Sidierungen,
der beeinflussenden Faktoren bedürfen, um völlig wirksam
zu werden. Für den Embryo sind sie zusammengefaßt in der
Person der Mutter; für das Kind im Milieu, dessen Begriff
aber weit genug gefaßt sein muß, um audi die geographisdie
Breite, Klima und vielleicht den astronomischen Ort der Erde
mit zu umfassen.' Das Kind reift in diesem Milieu als in
einem neuen Mutterleib, wie cs vor der Geburt in dem
Mutterleib als in seinem Milieu wuchs. So wenig wir wissen,
welchen Einfluß „der Morgenwind an Mutters Haaren” auf
den still wachsenden Fötus hat, so w'enig ahnen wir, ob
Sirius, Mond und Sonne, die Tiefen des Erdinnem, die Fernen
der Erdoberfläche auf den munter heranwadiscndcn Knaben
wirken. Wir sind dieses Nidit wissen gewöhnt. Wir müssen
uns aber gewöhnen, unser Nidit wissen cinzugcstehen, auch
w r enn es sidi um die Zuordnung irgendeines Stückes des
näheren Mileus als Ursadie zu irgendeinem Stück der Reifung
als seiner Wirkung handelt. Gewiß, das Sprechen wird gelernt,
so nennen wir eine der möglidien Wirkungsweisen des
Milieus, von wann an aber? Das Atmen und Mundbew egen,
das Leuchten der Augen, die Mimik des Gesichts, die Panto-
mimik des Körpers, sie sind gereift, wir wüßten nidit, durdi
welches Stück des Milieus gefördert, durdi welches gehemmt;
aber audi das rhythmische Lallen, das bereits klingt wie Papa
und Mama, ist nodi Reifung. Wir wissen nidit genau, w r ann
und wo eins ins andere übergeht. Und wenn das unbezweifcl-
barc Lernen beginnt bei Vokabular und Grammatik — audi
da noch ist nidit alles unbezweifelbar, haben dodi die Ein-
75
jährigen aller Völker eine gemeinsame eigene Grammatik
und fast noch die Zweijährigen ihre eigene - wer wollte
entscheiden, welches Milieustück fehlen darf und welches
unerläßlich ist für den gleichen Enderfolg? Dabei ist die
Sprache kein völlig gutes Beispiel, denn sie ist ein teilweise
intellektueller Prozeß und fraglich, wieviel davon in jener
Urgesellschaft vorhanden war, die uns hier vorschwebt. Genug,
es wächst das Kind heran und wird so, wie die anderen
seiner Horde sind, es wird so, wenn es unter ihnen lebt,
und hat die große Rekapitulation beendet, es ist erwachsen.
Es ist vom einzelligen Eidien zum Bürger seiner Gesellschaft
up to day geworden. Es gibt in dieser primitiven Gesellschaft
noch keinen Geschichtsunterricht, weil es für sie nodi keine
Geschichte, keine Erinnerung an die Ahnen gibt. Aber viel¬
leicht gibt es in ihr schon Gebilde, von den Ahnen geschaffen
und bei den Modernen in Gebrauch, die nicht in der Art
fortgepflanzt werden können, die sonst bei Tieren für
die Überlieferung neuer Erfindungen üblich ist, sie einfach
in Plasma herzustellen: die Horde verwendet Werkzeug;
eine praktische Arm Verlängerung aus Holz, einen über¬
aus verwendbaren Reservebauch aus Ton. Dann ist - im
Prinzip - der letzte Abschnitt der Reifung des Jungen dem
Erwerb dieser letzten Neuerung des Organischen auf Erden
gewidmet; während die ersten Abschnitte den urältesten
Erwerbungen galten: der Lösung des schwierigen Problems,
mit dem im Grunde unsere soziale Frage bereits, mitgelöst
war, wie zwei Zellindividuen, statt einander aufzufressen,
trotz ihrer Individuation beisammen bleiben könnten, zu
gemeinsamem Nutzen und gemeinsamer vermehrter Sicherung,
wenn auch bei geminderter Bequemlichkeit, so doch auch bei
gemindertem Bequemlichkeitsrisiko.
Diese grandiose Rekapitulation ist der Wissenschaft ein
Rätsel. Die organische Rekapitulation ist der Schmerz des
76
neugierigen Biologen. Sie sollte es doppelt für den Pädagogen
sein. Was immer sie herbeiführt, was immer die Technik
dieses gigantischen Wiederholungszwanges ist, ihr Resultat
ist die ideale Erfüllung einer Plasmadidaktik, denn der Zög¬
ling, der übrigens still und bescheiden, wie nur Embryonen
eben sind, - aber vielleidit ist das der Grund der präditigen
Erfolge, und die Landsdiulmeister, die Disziplin verlangen, haben
nicht so unrecht — lernt in neun Monaten den ungeheuren und
gewiß langweiligen Lehrstoff der Jahrhunderttausende so vor-
trefflidi, daß er ihn sogar selbst im Schlafe kann. Über den
Weg der Kulturrekapitulation, der Hodischule sozusagen, die
der Fötus, durch die merkwürdige und vermutlich peinliche
Prüfung Geburt reif erklärt, zu beziehen hat, wissen wir
durdi Freud ein wichtiges Faktum. Sie geschieht, indem sich
das Kind mit seinem Milieu identifiziert. Durch Nachahmung,
konnte man früher sagen, solange man von den tiefen, un¬
bewußten Vorgängen nidits wissen wollte. Das Kind iden¬
tifiziert sich mit der Mutter und allem Lebenden seiner
Umwelt (mit seinem Milieu), soweit es sie lieht. Die weibliche
Erziehung sorgt für den Eintritt solcher identifizierender
Liebe, indem sie Liebe spendet. Eine Werbemethode, die
beim Säugling nie versagt, und einmal an ihr Ziel gelangt,
cs beim Kinde unfehlbar festzuhalten vermag. Die organische
Rekapitulation, ergänzt und fortgesetzt durch libidinöse Iden¬
tifikation, madit aus der Eizelle in neun Monaten plus
et liehen Kinderjahren den Bürger up to day einer Tier-
gesellschafl und jener primitiven Mensdiengruppen.
Eine freundliche Pessimistin höre ich jetzt sagen, ja wozu
haben wir dann Sdiulen? Laßt sie uns zerstören, ersetzen
durdi diese präditige, einleuchtende Methode der organischen
Rekapitulation und libidinösen Identifikation! - Bravo! Er
war wirklidi richtig ausgcsprodien, dieser Fremd wörter-
Vierzadt! Geehrtes Fräulein, Sie sind zu optimistisch, Sie
77
müssen ganz durchhalten mit dem Pessimismus und einsehen,
da« das leider, leider - in dieser Exklamation sind wir
wieder einige Freunde - nicht melir möglich ist, seit jene
gräßliche Geschichte in der Menschheitsgeschichte vorgefallen
ist, die Sie besser in Freuds „Totem und Tabu“ nachlesen.
Sie werden die Geschichte zwar unglaubwürdig finden. Idi
glaube sie und bin überzeugt, daß die mensdilidie Gesell-
sdiaft durdi sie jene Komplikation erfahren hat, die leider,
leider ein Schulwesen und eine Erziehung, also eine künst¬
liche, institutionelle Methode anstatt jener natürlidien Weisen
notig macht. V enn auch nicht so schlecht erzogen werden
muß, wie Sie in Ihrem Kindergarten tun, da bin ich Optimist.
Die Voraussetzung der „natürlichen Methode” ist nämlich
erstens: Daß der „Lehrstoff” durch Identifikation aneigenbar
sei. Das ist möglich bei Verhaltens weisen, nicht aber bei
Bewußtseinsinhalten. Kenntnisse, diese mögen nun in Er¬
innerungen oder in Begriffen den Milieupersonen angehören,
sind vom Kind durch keine libidinöse Identifikation erwerbbar!
Diese folgt den Wahrnehmungen und kann daher die Worte,
den Niederschlag solcher Kenntnisse, da sie hör- und sichtbar
smd, die Handlungen, die Konsequenzen aus jenen Kennt¬
nissen, da sie wahrnehmbar sind, nicht aber diese selbst auf¬
nehmen und behalten. Die Kenntnisse, soffen sie nicht mit
der siebesitzenden Generation aussterben, müssen in einem
besonderen Prozeß, dem Unterricht, übermittelt, durch eine
spezifische Arbeitsleistung, das Lernen, erworben werden.
Wir müssen nidit annehmen, daß Tiergeseffschaften und die
Menschheit in ihrem Urzustand solche Kenntnisse besaßen.
Die Altersklassengesei 1 schaft jedoch kennt bereits den Unter¬
richt, und zwar als kollektive Institution. So werden die
Knaben im Hinterlande von Liberia etwa im zehnten Lebens¬
jahre gewaltsam nadi dem Zauberwald, dem Grigribusdi
entführt, wo sie einige Monate in Abgeschiedenheit leben
78
und kollektiv Unterricht in Tanz, Waffenführung, Redits-
Ielirc und den Sexualgeboten und -verboten erhalten. Dieser
Unterricht wechselt in anmutiger Weise mit Tätowierung,
Beschneidung und anderen grausamen und schmerzhaften
Riten ab. Im Zauberbusch verbirgt sidi die erste Schule. Der
Unfersdiied mag sehr beträchtlich, mag imponierend sein,
der zwischen dieser Urschule und unseren heutigen ver¬
wickelten l nterrichtsinstitutioncn besteht. Es ist dennoch das
gleiche Prinzip, die spezifisdie Organisation der Übermittlung
von bestimmten Kenntnissen, die von der Gesellschaft für
nötig gehalten weiden, von ihren Beauftragten unterrichtet,
von den Kindern gelernt werden. Und ein Stück des uralten
Sadismus, ein Schimmer jener Aggressionsorgie, in deren
Dunstkreis die Sdiule erstmals erfunden wurde, verklärt sie
noch heute, gehörte ihr ausnahmslos jederzeit, einmal in
hellem Strahlen, einmal in dumpfem Glimmen, zu. So werden
die Didaktiker hymnisch sagen. Idi sehe — avisuell, wie ich
bin - kein Licht, nur dunkle Finsternis, aber das ist vielleidit
nur mein eigenes Augensdiwarz, des Pessimisten seines.
Abersehen wir auch sdiwarz, müssen wir clodi nicht ungerecht
denken. Die Sdiule hat’s nicht leidit. Sie hat entgegen allen
ererbten 1 rieben in den Kindern, entgegen ihren spontanen
Wünschen und Interessen zu wirken; sie steht allemal, ihre
Mittel seien humane oder brutale, NatUrgewalten gegenüber
und vertritt dein Kinde gegenüber die Härte und Kom¬
pliziertheit der gesellschaftlichen Realität, die der Menschheit
seit ihrem Sündenfall, er sei nun im Paradies oder in der
UrHorde geschehen, aufgeladen ist. Sie nimmt den Platz der
Engel ein, die vor der verschlossenen Paradiestür des ver¬
lorenen Urzustandes stehen, wachend, daß der alte Adam
nie wieder zurückkehre, sondern mit Schweiß, Verzichten
und Schuldgefühl vor diesen Toren sidi ein Ersatzparadies
schaffe. Was ihm freilidi bisher nur mangelhaft gelang. Aber
79
daran sind gewiß die Engel nicht schuld, ob sie nun Schwerter
oder Palmwedel in ihren Händen tragen.
Die andere Voraussetzung für die natürliche Lernmethode
ist weniger klar zu formulieren. Wer sie nicht von selbst
versteht, wird sie frühestens im letzten Kapitel begreifen.
Das heran wachsende Kind, durch unser Fremdwörter-Vierzack
in eine bestimmte Reifungsbahn gedrängt, muß zugleich mit
der Beendigung der Rekapitulation den psychischen Zustand
erreicht haben, der es zu einem in seiner Gesellschaft un¬
gefährdeten, seine Gesellschaft nicht gefährdenden Mitbürger
macht. Die sonst so vortreffliche Plasma-Didaktik hat einen
beträchtlichen Fehler, sie ist stark konservativ. Zu Lehrstoff¬
neuerungen ist sie nicht zu haben. Sie ist schlimmer wie
unsere Pompe funebre, die heute noch die Kleider von 1750
tragen. Die Lachse haben nach ihrem Lehrplan heute noch
die Geographie von vor Jahrtausenden zu lernen und
schwimmen zur Laichzeit aus dem Meer viele Kilometer weit
die Flüsse hinauf, um an Jenen Stellen zu laidien, wo
seinerzeit, in vergangenen geologischen Epochen, die Mün¬
dung des Flusses behagliche Bedingungen für dieses wichtige
Geschäft bot. Ihnen müssen unsere Universitäten bolschewistisch
erscheinen, die 200 Jahre nachdem der selige Thomasius seine
Vorlesungen deutsch zu halten wagte, nodi nicht wagen,
Latein als ihre Voraussetzung aufzugeben. Die letzten paar
Jahrtausende, das ist die bittere Erziehungsnuß. Sind in
ihnen Revolutionen vorgefallen, die neue Bahnen für Seelen-
und Triebentwicklung vorzeichnen, so bleiben sie im Rekapitu¬
lationslehrplan völlig unberücksichtigt, er tradiert noch immer
Latein, die Gesellschaft aber — wer kann ihr dies menschliche
Verhalten verargen — sie ist doch gerade auf das Esperanto
so stolz, das ihr die Revolutionen ihrer letzten Jahrtausende
brachten. Und sie besteht darauf, daß es jedem geläufig
werde, ehe er als Erwachsener gilt. Und seit dem Sündenfall
«0
ist diese Esperanto frage tausendfach kompliziert, immer aufs
neue aktuell geblieben. Erfinderisch in ihren Methoden hat
sidi die Mensdiheit hier nidit erwiesen. Wir werden davon
noch sprechen. Sie hat gleich anfangs eine Idee gehabt und
ist bei ihr geblieben: die männliche Ürrcaktion zur Hilfs-
und Ergänzungsinstitution auszubauen. Das ist ihre Funktion
geworden.
Konstruieren wir weiter, dies klar zu machen. Die voraus¬
gesetzte ursprüngliche Entwicklung, die bei den Tieren in
gewissem Sinn rein erhalten zu sein pflegt, zeigt drei Wende¬
punkte im Beziehungsleben des Kindes, des Knaben, ins¬
besondere, zu seiner Mutter. Die Geburt wendet es von
innen nach außen; aber es bleibt in Körpernähe der Mutter;
der erste Schritt wendet es vom Körper der Mutter weg;
er bleibt Ziel seiner Ruhewünsdie, zu ihm kehrt es zurück,
wenn es an Welt und Spielkameraden genug genossen,
genug Enttäuschung erfahren hat, aber er ist nidit mehr das
einzige, sondern nur mehr das letzte Ziel seiner Strebungen;
erwadisen — gesdhlechtsreif geworden, und das allein heißt
dem primitiven Zustand erwadisen - wendet sich das Kind
wieder zur Mutter, aber nicht als ruhesuchendes Kind,
sondern als Lustsuchender, nach Bemäditigung strebender
Mann; gegen die Mutter wendet es sich, im Verglcidi zu
seiner früheren Verhaltungsweise. Sie ist nicht mehr Mutter,
sondern sic ist ein Weib wie Jedes andere, Trägerin eines
lustspendenden Organs.
Zu den Urrevolutionen, die an der Grenze zwischen der
Urmcnsdiheit und der menschlichen — wenn auch nodi
primitiven - Gesellschaft stehen, gehört das Verbot dieser
letzten Wendung. Die Erwachsenheit soll nicht mehr in der
synthetischen Rüde Wendung münden, sondern soll die Anti¬
thesis des zweiten Schrittes vollenden; sie soll in einer
völligen und ewigen Abwendung von der Mutter bestehen.
Bernfcld, Sisyphos 6
Si
Alle Weiber mögen dem Manne gehören, sie stehen ihm zur
Wahl, er darf um sie kämpfen, er steht ihnen zur Wahl;
nur diese eine nicht. Sie ist hors concours gestellt, zwischen
ihr und ihm ist die Inzestschranke unerbittlich niedergefallen
und treibt die Triebe in sonderbare Umwege, die in späteren
komplizierten Konstruktionen zu tödlichen Labyrinthen sich
verschlingen. Irgendwann, irgendwie ist dies, die Entstehung
des Inzestverbotes, in der Urhorde eingetreten, in irgend¬
einer dunklen Verbindung mit dem anderen Ereignis, jenem
Vatermord. Wir wissen darüber nichts und danken Gott,
daß wir nicht Ethnologen sind, die das unentwirrbare Bündel
von Problemen zu lösen haben, das die innere Chronologie
all jener die Menschheit konstituierenden Umwälzungen auf¬
gibt Uns darf genügen, daß unter den zahllosen Folgen, die
dieser Tat und dieser Neuerung entsprangen, auch die der
männlichen Urreaktion entsprechende Erziehung Ist Wenig
verwunderlich, wo doch kein Zug in keiner der post-
inzestualen Gesellschaften von damals bis heute der unmittel¬
baren Nachwirkung jener Urereignisse entbehrt, die zwar
uralt, aber dennoch aktuell wie nur eines, lebendig wie keines
seither sind.
*
Den Inzest zu verhindern, nahmen die Männer den Müttern
ihre Knaben - und wäre es gewaltsam - fort; in dem Zeit¬
punkt ihres Erwadisenwerdens den Mord zu verhindern,
unterwarfen sie die Getrennten dem Initiationsritus. Durch
die Inzestscheu und das Schuldgefühl war die Gesellschaft
und mit ihr die Einzelpsyche um Elemente bereichert - oder
belastet — worden, die der organischen Rekapitulation nicht
zugänglich waren. Denn sie waren ein Neues, neu für das
Organische (und Urpsychische) auch noch nach Generationen
langer Wiederholung. Sie sind ihm neu - vielleicht — heute
noch nach hunderttausendmaliger Wiederholung in hundert¬
tausend Generationen seit der erstmaligen Erfindung. Bei
82
allem Respekt vor der Gewalt des Konservativen im Leben¬
digen, ich fühle midi nicht geneigt, ihr diese Resistenzfähig¬
keit gegenüber einem soldi eindringlidien Anpassungszwang,
wie ihn diese Wiederholungskette darstellt, zuzumuten; und
nehme gerne an, daß diese Neuerungen, Inzestscheu und
Schuldgefühl, ein völlig ungenießbares Kapitel sind, das die
Gesellschaft dem Plasmalehrplan cinverleiben wollte. Jene
menschheits-, gesellsdiaftsbildenden Neuerungen sind wahr¬
haftig ungeheuere Erfindungen von absoluter Originalität. Wir
haben uns an sie gewöhnt, sie scheinen uns selbstverständlich,
aber nur so lange wir mit ihnen weder denkend noch erlebend
zu tun haben. Wir müssen durdi diese problemverschleiernde
Gewöhnung hindurchsehen und erkennen, daß beide im
ganzen Reidi des Organisdien und Psydiisdien kein Ana¬
logon haben. Sie sind wirklidie Überleistungcn, durch die sidi
das Biopsydusche über sidi selbst erhebt, so wie sie Freud als
Über-Idi dem Es und seinem Ich übergebaut vorstellt. Werk¬
zeug, Sprache, Denken, Gesellschaft, alles Erfindungen von
äußerster Bedeutung, sind doch an keiner Stelle ihrer Ent¬
wicklung prinzipielle Neuerungen, nachdem einmal die großen
biopsychischen Urcrfindungen gemacht waren, als welche z. B.
die Differenzierung des Lebendigen aus dem Abiotischen,
die Gründung des Zellenverbandes und die organische
Arbeitsteilung erfunden waren. Inzestsdieu und Schuldgefühl
sind Gebilde von solch prinzipieller Neuheit, wie Jene Pro¬
zesse zu Beginn der Entwicklung des Lebenden. Ich will das
nicht mit Sicherheit behaupten, aber es gibt Gründe, die
solche Möglidikeit sichern, und diese Betrachtung hat ctlidie
verlockende Schönheiten und Vorzüge. Nur eine naheliegende
Folgerung möchte ich ab wehren, einschränken wenigstens.
Die Menschwerdung wäre demnach ein unvergleichlich wich¬
tiges Faktum in der Geschichte des Lebens - auf Erden
wenigstens - und wie fügt sich dies einer pessimistisdien
6 *
83
Weltbetrachtung? Idi meine, diese These hat mit ihr wenig
zu tun; sie bezeichnet ein Faktum. Die Weltanschauung tritt
erst bei der Beurteilung der Zukunft in Frage. Und für sie
wird der Pessimist geneigt sein, eine sehr zweifelhafte
günstige Entwicklung nicht allzusehr zu überschätzen. Er
wird finden, daß die Geschichte jener Neuerungen - was
man Menschheitsgeschichte nennt — keine glückliche war. Im
wesentlichen — mindestens - hat die Natur des Menschen
sich erfolgreich dieser Neuerung widersetzt. Nur durch ent¬
sprechende gesellschaftliche Einrichtungen ist ein gewisses
Gleidigewicht zwischen den Forderungen des Über-lchs und
dem gewohnten Ablauf der Triebe - seit uralten Zeiten
gewohnt — hergestellt. Der Menschendurchschnitt steht unter
dem Normalniveau der Forderungen, und eine sehr beträcht¬
liche Zahl von Einzelnen bleibt hinter diesem Durchschnitt
noch als krank und verbrecherisch zurück. Diese gesellschaft¬
lichen Einrichtungen selbst aber erfreuen sich keineswegs
einer zukunftsverleihenden Stabilität. Die Folgen jener Neue¬
rungen im einzelnen sind fragwürdig genug, und wenige von
ihnen versprechen ein irgend nennenswert dauerndes Faktum
zu sein. Im ganzen ist keineswegs immöglich, daß die
Menschheit (die Gesellschaft der Tiere mit Inzestsdieu und
Schuldgefühl) an ihren Konflikten zugrunde geht, so wie
Seifenblasen zerplatzen, bald oder später, was tut’s? Dann
wird, statt der unvergleichlichen Neuerung an der Schwelle
einer neuen Ära des Bios, nichts als bestrafte Ruhmredigkeit
der Menschheit und ihrer Neuerung Schicksal und Name
sein. Aber ich möchte nicht verheimlichen, daß es doch spär¬
lich, lächerlich spärlich Fakta gibt, die eine freundlichere
Prognose stützen, noch nicht sein, aber denkbar sein lassen.
Da ich dieser vagen Möglichkeit eine breitere Darstellung
und Erörterung an anderer Stelle widmen möchte, schalten
wir die Weltanschauungsaffekte aus und erinnern uns, daß
84
wir von der Grenzensetzung der Macht der libidinösen Iden¬
tifikation ausgegangen sind. Wir fanden diese Grenze zunächst
darin gegeben, daß die Identifikation, an die Wahrnehmung
gebunden, nur das Verhalten der erwachsenen Menschen des
Milieus wiederholen kann.
Jetzt sehen wir deutlidi, daß sie auch dort nicht möglidi
ist, wo sie die organische Rekapitulation nicht bloß zu
fördern, zu hemmen und zu beeinflussen hätte, sondern wo
ihr die Aufgabe gestellt wäre, eine der organisdien Rekapi¬
tulation strikt widersprechende Neuerung zu erreichen. Die
Mutter ist in primitiven Zuständen das Objekt der Identifika¬
tion, wie soüte an ihr die Inzcstsdieu gelernt werden? Gibt
sie dodi das Beispiel des Sexuallebens und erregt die Nadc-
ahmung ihrer Kinder; und der Gatte der Mutter, ein zweit¬
rangiges, aber doch das männliche Identifikationsobjekt, weckt
die Begierde eben zur verbotenen Mutter, denn daß er etwa
seiner Mutter die geforderte Scheu entgegenbringt, kann die
Kinder bestenfalls zur Großmutterinzestsdieu, aber nicht zur
entscheidenden Mutterscheu bringen. Hier hilft kein Mittel
als die Zerstörung der ursprünglidien Gesellschaftsform, die
Zerschlagung der Mutter-Kind-Gruppe, die Überführung des
Kindes vor seiner Mannbarwerdung in ein neues Milieu, das
eine Änderung der Richtung der libidinösen Identifikation
bewirkt; und die gewaltsame Verziditserzwingung auf die
natürliche Triebbefriedigung durdi radikale Versagung, durch
Angst, Strafe, Umbau der Affektkräfte und der Idistruktur
durch erlernte Kenntnis, durch Magie und Mythos und neue,
der früheren Struktur unbekannte, Lust. All dies leistet der
Initiationsritus. Er ist vorbereitet in der Umformung der
Gesellschaft in Männerbünde und Altersklassen, verankert
in der männlichen Urreaktion gegenüber der Entwicklungs¬
tatsache: der Kindtötungstendenz.
Nach all diesen Umwegen und Abschweifungen ergibt sidi
85
als Funktion der männlichen Erziehung: die Erzielung der
psychischen Struktur, die den erreichten Gesellschaftszustand
zu erhalten vermag, wenn diese psychische Struktur ein Plus
an prinzipiellen Gebilden gegenüber der ursprünglichen bio-
psydiischen enthält. Das Kulturplus der menschlichen Psyche
zu erzielen und zu verewigen, ist ihre soziale Funktion, denn
durch dessen Erzielung konserviert sich die erwachsene
Gesellschaft in der von ihr erzogenen Generation. Idi habe
oft betont, daß die Scheidung der beiden Erziehungsformen,
männlich und weiblich, eine theoretisdie, wissensdiattlidie
Abstraktion ist. Im konkreten Fall sind sie in einem
bestimmten Misdiungsverhältnis vorhanden und erfüllen
zusammen die Gesamtfunktion: der physischen Erhaltung
der Gesellschaft, der Sicherung und Beeinflussung der organi¬
schen Rekapitulation, deren Korrektur und Ergänzung durdi
Erzielung des Kulturplus: die Erhaltung der erziehenden
Gesellschaft und ihrer psychischen Struktur.
Ilreit und ausführlich habe idi die Urgesdiidite der
Erziehung — ihre Anfänge — behandelt, von denen wir
nichts wissen; ich werde, unserem steigenden Wissen ent¬
sprechend, beträchtlich kürzer verfahren, je näher wir dem
Zustande der Erziehung in unseren Tagen kommen. Nicht
getreu dem Dogma der neuesten Wissenschaftsersätze, viel
Kenntnisse hindern die Erkenntnis (Schau), sondern meiner
Absicht eingedenk, keine Psychologie, keine Soziologie, keine
Gesdiichte der Erziehung zu schreiben, vielmehr eine Er¬
ziehungswissenschaft, die es noch nicht gibt, voraussetzend,
die Grenzen aller und heutiger Erziehung abzustecken, da¬
durch für midi wenigstens und einen meiner Leser jene
Erziehungswissenschaft vorbereitend.
Einige Etappen auf diesem langen Weg der Erziehungs-
gesdiichte müssen bezeidinet werden. Sehr früh, so dürfen
wir uns vorstellen, dringt die männliche Erziehung in die
86
Paargruppe ein, ohne sie zu zerstören, ohne organisiert zu
sein, durch tränkt sie doch die weibliche Vcrhaltungs weise mit
allerhand Verboten, neuen Zügen, Umdeutungen, Modifika¬
tionen, deren Funktion die Erleichterung und Sicherung der
Kulturplus-Erzielung ist. Idi habe früher sdion Beispiele
dieser Verschiebung des Beginnes der männlichen Erziehung
gegeben. Sie tendieren dahin, die Trennung des Kindes von
seiner Mutter früher, langsamer oder energischer zu voll¬
ziehen; den Vater als Partner in die Objekte der libidinüsen
Identifikation einzureihen; der rekapitulativen Triebent-
widdung Versagungen häufig, früh und anhaltend zu setzen;
sie durch Angst zu zersetzen; durch Angstüberwindungen,
die neue Lustformen schaffen, endgültig abzuleiten; ins¬
besondere die Mutter zu verhindern, durch ungebrochenen
Liebesausdrude allzu intensive Liebesblndung des Kindes zu
erreichen.
Ich wage nicht zu entscheiden, und fühle mich nicht ver¬
anlaßt durch irgend eine Konstruktion oder Vermutung den
Leser unnötig zu verstimmen oder zu begeistern, ob es
diese Maßnahmen, oder welche sonst es waren, genug, ein
sehr erstaunlicher Erfolg ist eingetreten. Wann? Wer weiß,
vielleicht heute noch nicht restlos, vielleicht in den frühesten
Zeiten der Vorgeschichte. Die Kindheitszeit hat sich ver¬
längert. Was ursprünglidi eine künstliche Einschaltung in die
Entwicklung war, ein Ritus von einigen Wochen, der natür¬
lich das Reifen des Körpers so wenig beeinflußte, wie etwa
die Abiturprüfung bei deren glorreichen Einführung anno
1812, ist irgend wann einmal eine Veränderung des psychi¬
schen Entwicklungsprozesses, seine Streckung um eine statt¬
liche Anzahl von Jahren, geworden. Sie wird in Europa auf etwa
zehn Jahre zu schätzen sein. Denn an Stelle der wenigen
Monate Initiation bei den Primitiven erleben unsere Kinder
eine Fortsetzung ihrer Kindheit über das sechste Jahr hin-
87
aus, etwa bis ins vierzehnte, daran schließen sich etwa zwei
Jahre Pubertät, und mit sechzehn Jahren erst ist der euro¬
päische Jüngling in dem Sinne reif, den die Beendigung der
Initiation beim primitiven Jüngling im zehnten oder drei¬
zehnten Jahre ausspricht. Die Kulturentwicklung brachte
hier, zum Teil schon in historischen, w’ohlüberschaubaren
Zeiten, Komplikationen und Differenzierungen von beträcht¬
licher Größe und immenser Bedeutung für die Erziehung.
Das ursprüngliche Kind - bei Tier und Urmcnsdi - erreidit
zugleich das Ende von physischer Entwicklung und psychischer
Entfaltung, es wird physisch und psychisch zuglei di reif, die
Entwicklung beider Linien geht parallel; ist ihr Ende er¬
reicht, so ist es auch zugleich „sozial” reif, es darf von nie¬
mand gehindert werden, sowie es körperlich hiezu fähig ist,
sich auch sexuell wie ein richtiges, vollgültiges Tier zu benehmen
und es hat die psychische Bereitschaft hiezu in Einem mit er¬
langt. Die Kultur brachte eine Trennung dieser drei Belange;
die psydiische, die physische und die soziale Reife haben je
ihre eigenen Wege zu gehen und sind zu verschiedenen
Terminen fällig. Die soziale Reife ist deutlich von kulturellen
Momenten bestimmt; sie ist von der Kiassenlage des Jugend¬
lichen und von seinem Vermögen abhängig. Der fünfzehn¬
jährige Proletarierjunge, der in der Fabrik seinen Lebens¬
unterhalt vollständig verdient, hat zwar rechtlich die Selb¬
ständigkeit des Erwachsenen noch nidit erlangt, mag als nicht
vollwertig von seinen Verwandten und Arbeitsgenossen
betrachtet werden, er hat aber doch Freiheiten auch auf dem
Gebiet der sexuellen Betätigung, die er nicht nur je nach
seiner physischen und psy duschen Reife nützt, sondern für
die er auch die Sanktion in der öffentlichen Meinung seiner
Umgebung erhält. Der gleichaltrige Gymnasiast hingegen wird
sidi bei gleicher physischer und psychischer Reife dieselbe
Freiheit nur als strafbares Verbrechen in aller Heimlidikeit
88
und Verworfenheit gestatten dürfen. Weniger offenkundig
ist audi die psydiisdie Reife mehr von Kulturfaktoren als
von dem physischen Zustand des Sexual apparates im weitesten
Sinne des Wortes abhängig. Die seelisdie Bereitschaft, erwadi-
sene Funktionen, in der Liebe so gut wie im Wirtschafts- und
Kulturleben, auszuüben, kann verfrüht auf treten, zu einer Zeit,
wo der Körper, noch unentwickelt oder schwach, diese Bereit¬
schaft zu Phantasien zu verkümmern oder voller Verdrängung
anheimzufallen zwängt, wobei die sozialen Kräfte, durch die er¬
ziehende Umgebung des Kindes repräsentiert, diesen Unter¬
gang beschleunigen. Die Lehre Freuds hat uns gezeigt, wie
dieser Fall der normale ist und in verhältnismäßig früher
Kindheit statthat. Die seelisdie Bereitsdiaft, die psychisdie Reife,
kann aber auch monate-, jahrelang nach der erreichten physi¬
schen eintreten. Die Diskrepanz zwisdien dem Drängen des
Körpers und dem Wider willen, der Ahnungslosigkeit, der Angst
des Ich erzeugt dann jene widerspruchsvollen, genialisdien oder
idiotischen Wirbelstürme der Seele, die wir Pubertät nennen,
und die bis weit in die Zwanzigerjahre hineinreichen, oder
aber nach kurzer Zeit erwachsenem Frieden, von Wirbelköpfen
als Philistertum beschimpft, weidien können. Die Tiere und
die menschlichen Urgesellsdiaften kennen diese Komplikationen
nidit; sie entstanden erst mit diesen Komplikationen der
Gesellschaft selbst.
Von unvergleidilidier Bedeutung für die Erziehung war
aber eine Entwicklung, die sich in frühesten Zeiten, gewiß
bald nach den Revolutionen, die gesellschaftlich durdi Inzest-
scheu und Schuldgefühl entstanden sind, auf einem Kultur¬
gebiet vollzog, das mit der Erziehung selbst umittelbar nichts
zu tun hat. Die primitive Wirtschaft erfuhr prinzipielle Ver¬
wandlungen: soziale Madit und Besitzungleichheit, Besitz
überhaupt, entstanden; auf dunklen Wegen, die zu verfolgen
nicht unser Amt ist. In irgend einer Weise hat das Schuld-
*
89
gefühl, hat der sexuelle Besitzwunsch, die Besitzsdieu auf
die Wirtschaft und auf Wirtschaflsobjekte übergegriffen. Die
durch jene Urrevolutionen geschaffene neue Gesellschaft, die
an der Wirtschaftsweise der Urgesellschaft — in gewissem Sinn
eine Art Kommunismus — wenig geändert haben mag, deren
Reformen sich anfangs auf die neue Gestaltung der sexuellen
Frage bezogen, und deren erste Ausstrahlungen sich auf
sozusagen geistige Gebiete erstreikten (sind doch die Anfänge
von Religion, Kunst, Erziehung Neuerwerbungen der auf
Schuldgefühl basierten Männergesellsdiaft), deren tiefste
Tendenz auf die Bereicherung der Biopsyche durch das
Kulturplus gerichtet war, begann auch die W irtschaftsweise in
das System ihrer Umgestaltungen einzubeziehen. Die Wirt¬
schaft, die sachlichste aller menschlichen Angelegenheiten,
wurde in den Wirkungskreis des Libidinösen, des Sdiuld-
gefühls hineingezogen. Eine Entwicklung von so ungeheurer
I ragweite, von so intensiver Nachwirkung auf jeden Atem¬
zug jedes heute lebenden Menschen, daß ihr gegenüber die
Sdmldfrage nicht aufgeworfen werden kann, und wir uns be¬
gnügen müssen und können, festzustellen, daß alle heillosen
Verwicklungen in denen wir leben, in denen die Menschheit
seit Jahrtausenden zu keiner Ruhe, zu keinem Glück ge¬
langen kann, daß all dies, das man Weltgeschichte
und soziale Frage, Revolution, Entwicklung un d Still¬
stand, Aufblühen von Kulturen und Völkern, Unter¬
gang ganzer Länder nennt, daß es, indem der uner¬
schrockene Forscher dahinter letzten Endes die Wirt¬
schaft und ihre autonomen Gesetze und deren allseitige
W irkungen erkennt, in noch tieferer Schichte, aber darum nicht
weniger bis ans Gekräusel der Oberfläche reichend, Folge
jener in grauen Anfangszeiten eingetretenen Durchdringung
der Wirtschaft und damit restlos des Ganzen der Gesell¬
schaft durch das Schuldgefühl ist. Vielleicht hat eine über die
90
Menschheit zu ungelegenster Zeit hereingebrochene Not¬
katastrophe, die Eiszeit darf hier so gut in Frage stehen,
wie ein beliebiges anderes Ereignis, diesen Prozeß erzwungen
oder ihn nur befördert, vielleicht war er notwendig, zu
welch ein Endzweck immer, — was sich Sozialismus mit Recht
nennen darf, erstrebt seine Liquidation. Der Pessimist wird
nicht so unbesdieiden sein und erwarten, daß gerade ihm
gegönnt sein mag, das Ende einer so langen und so furcht¬
bar verwirrten Geschiditsepoche noch mitansehen, den
Beginn einer vielleicht nodi. längeren und hoffentlich glück¬
licheren erleben zu dürfen; er wird sogar zweifeln, ob irgend
ein Anzeichen verrät, daß dieses glüddidie Ende nicht nur
ersehnt und erhofft, sondern audi erwartet werden darf,
und wenn er heiter von Gemüt ist, wie der Verfasser dieses
Buches gelegentlich, so wird er gestehen, daß etwas von
Mißgunst und Sdiadenfreude mit den künftigen Geschlechtern
seiner Skepsis beigemengt ist. In Jedem Fall hat seit jener
verhängnisvollen Irradiation die menschlidie Gesellsdiaft auf¬
gehört, ein einfadies Gebilde zu sein, das in einigen seiner
Strukturelemente von den Triebbedürfnissen, in anderen
von den sadilidien Bedingungen des t utters, seinem A or-
kommen, seinen Beinäditigungsbedingungen bestimmt ist,
sondern sie w’urde ein in jedem unscheinbarsten und wesent-
lidisten ihrer Elemente unübersehbar verschlungenes Gestrüpp
von Hunger und von Liebe. Kein Wirtschattszug, der nicht mit
— und wäre es unkennbar fein sublimierter — Sexualität
gefärbt wäre, keine Regung der Biopsydie, die nicht eingeengt
wäre in die konkreten Bedingungen einer Wirtschaft.
Hier ist die Stelle, wo ich gern einige Autoren zitieren
würde, um nicht selbst die Verantwortung für Anschauungen
tragen zu müssen, die mancher Leser mit mir nicht teilt,
wenn idi nur solche Autoren kennte. Aber leider, keiner,
von denen idi etwas las, ist von genügender Deutlidikeit
91
und'Ausführlicfakeit, beherrscht die beiden Tatsadiengebiete,
wenn es sidi darum handelt, die Wechselwirkungen zwischen
den Wirtschaftsprozessen und den biopsychischen Reaktionen
und Abläufen darzustellen. Der flache Psychologismus in der
Soziologie ist längst oder bald in seiner ganzen Langweilig¬
keit erkannt; weder die Wünsche des wirtschaflenden Men¬
schen noch seine Ideen sind die Motoren des wirtschaftlichen
Geschehens; vielmehr sind jene durch es entstanden und
diese seine Rechtfertigung (und der Protest dagegen). Aber
die tiefere psychische Struktur des Menschen ist unbeeinflußt
vom Wechsel der Produktionsformen und ihrer Ideologien.
Ls ist möglich, viel vom wirtschaftlichen, vom gesellschaft-
lichenGesdiehen zu deuten, als wärenhier nur Triebumsetzungen
einer menschlichen Seele. Wie die Technologie als Organ-
projektion gesehen werden kann, so die Gesellschaftsformen
als irgend eine psychoäde Umsetzung. Es ist, als wäre die
Wirtschaftsform eine Art materialer Gestaltung und Recht¬
fertigung des Gesellschaftsunbewußten; eine Art Ideologie
des Schuldgefühls. Man kann Marxisten sehr böse machen
durdi soldie Gedankengänge. Und man verscherzt sich leicht
die Sympathien der Psychoanalytiker, wenn man behauptet:
trotz allem, Karl Marx hat doch recht. Einfach recht.
Beide haben recht. Nicht die Marxisten und die
I reudianer, sondern Marx und Freud. Es ist die Ge¬
schichte mit dem Zeppelin, der in den längst vergangenen
Zeiten, als er noch gar nicht so recht funktionierte, das
Argumentum ad absurdum der edlen Kämpen war, die in
Freudschen Lehren recht unbegabte und verwirrte Gedanken¬
gänge eines perversen jüdischen Gehirnes entdeckten, und
die meinten, sie würden ihn völlig zerstören, wenn sie ihn
vor die Gretchenfrage stellten, ist jenes Instrument nun ein
Penissymbol oder ist es die geniale Konstruktion eines Er¬
finders, die reale Aufgaben erfüllt ? Heute weiß jeder Gym-
92
nasiast, daß ein Pcnissymbol sehr wohl ein braudibares
Flugsdiiff sein kann, weil jenes einen der Mechanismen der
psychischen Erfinder-Leistung, dieses die Bewertung der
technischen Leistung bezeichnet. Nicht weniger banal ist sehr
bald das psychisch-ökonomische Dilemma zu lösen. Das Heer
ist eine strukturierte Masse, „in der jeder Einzelne einerseits
an den Führer, andererseits an die anderen Massenindividuen
libidinös gebunden ist” (so lautet Freuds böser, „reaktionärer,
bourgeoiser” Satz), aber es ist auch das Instrument der
herrschenden Klasse zur Sicherung ihres nationalen Aus¬
beutungsmonopols, ihrer Macht, ihres Profits, ihrer Industrie
usw. Jenes auf einen seiner psychischen Mechanismen,
dieses auf seine soziale (ökonomische) Funktion hin betrachtet.
Es ist aber nicht der Hort zur Wahrung Deutschlands
höchster Volksgüter, sondern so wird es gegenüber dem
Defaitismus gerechtfertigt. (Verstehen meine teuren Genossen
diesen Unterschied; ein wahrhaft kapitaler Unterschied?)
Aber gewiß, man kann noch witzigere Dilemmen erfinden.
Kinder jeden Alters fragen, die sexuelle Aufklärung zu
höhnen, wer zuerst war: die Henne oder das Ei, und permu¬
tieren als geistreiches Problem das Aufklärungsspiel: was
zuerst war: die biopsydiische Struktur oder die Ökonomie.
Nun, kleinen Kindern, die mich derart belästigen, würde ich
zeigen, daß sie, so fragend, die Henne so wenig wie das Ei
glauben würden, daß sie demnach mir überhaupt nidit
glauben wollen, weil sie ja gar nicht das, sondern etwas
anderes wissen wollen, z. B. ob ich bürgerlich oder kom¬
munistisch wähle. Hingegen reiferen Erwachsenen kann man
doch vielleicht klarmadien, daß unbezweifelbar das Ei an
allem Anfang stand, wo hingegen, falls sie nach dem Hühnerei
fragen, hinwiederum die Henne selbigem voraufgegangen
sein muß. Und gleicherweise die biopsydiische Struktur ganz
allgemein vor der Wirtschaft da war, welche eine Reaktion
93
dieser Struktur auf Ökonom isdie Not ist (siehe Amöbe),
während die aus einer bestimmten Wirtschaftsweise sich
ergebenden Strukturänderungen und -ergänzungen wieder
der Ökonomie folgen. Großen Kindern dagegen würde idi
sagen, daß das eine überaus sdiwierige Frage sei, die ich
ihnen erst beantworten könnte, wenn sie hübsth fleißig
Biologie, Psychoanalyse und Soziologie von Grund auf gelernt
hätten. Denn große Kinder sind sehr große Dummköpfe in
allen Fragen der Aufklärung. Ich maße mir nicht an als
Stegreifübung und Fleißaufgabe die Beziehungen sozio¬
logischer Natur hier reinlich zu formulieren, ich gehe aber
— unbekümmert von solchen Argumenten, bekümmert bloß
durch das Gefühl, daß ich Selbstverständlichkeiten nur
wegen meiner Literaturunkenntnis, fürchte ich, wie originelle
Gedanken ausstaffieren muß — den Zickzackweg dieser Er¬
örterungen weiter, selbst schon neugieriger und ungeduldiger
als der Leser, wo in diesem Dickicht die Grenzsteine der
Erziehung sichtbar werden sollen?
Und überrasche uns alle durch die Behauptung, es gäbe
natürliche und unnatürliche Wirtschaftsweisen. Und setze
mit der noch erstaunlicheren Banalität fort, die Tiere bedienten
sich im allgemeinen der natürlichen Wirtschaftsweise. Sie
besteht darin, daß der Nahrungserwerb ein direkter ist. Sie
jagen und verzehren dies Gejagte in den Anteilen, die der
Stärke oder^der Jagdbeteiligung jedes Einzelnen zukommen.
Dies gilt auch für die Pflanzenjäger; auch dort, w t o so etwas
wie Bewirtschaftung vorkommt: Aufbewahren des Futters
für die Zeit der Not. Herabsetzung der Arbeitsleistung und
gleichzeitige Erhöhung des Jagd-(oder Arbeits-)Anteiles für
gewisse Individuen; gesellschaftlich verankerte Abgaben des
einen Individuums an ein anderes, die nicht in Liebe
begründet wären, also Ausbeutung durch Herrschaft ist eine
Gesellungsform, eine Wirtschaftsweise, die der biopsychischen
94
Struktur fremd ist, die, wo immer sie besteht, dem Kultur¬
plus angehört. Dieses der Kindheit zu vermitteln, die ohne
solche Vermittlung die nötigen Verhaltungsweisen nicht an¬
nehmen, deren Formulierung in Redit, Sitte, Religion nidit
kennen lernen würde, ist eine Funktion der Erziehung, ln
einem gewissen Maß muß die Erziehung diese spezielle
Funktion im Rahmen ihrer allgemeinen Funktion der Er¬
haltung der Gesellschaft in ihrem Kulturplusnivcau auf jeden
Fall anstreben, wie immer die Gesellschaft auch sonst struktu¬
riert sei. Zwei Fälle bestehen aber, in denen dies Spezielle
zu ihrer wichtigsten Funktion wird. Dort, wo die Wirtschafts¬
weise langjähriger Vorübung bedarf, und dort, wo sie aus¬
schließlich durch Macht erzwungen wird. Der erste Fall ist
leicht einzusehen: Gesetzt, die Mensdiheit würde verhungern
— und zwar zweifelsfrei und sdileunigst — wenn nidit jeder
ihrer Erwachsenen 5000 Bücher auswendig kann, dann müßte
durch ein System von sehr komplizierten Einrichtungen
dafür gesorgt werden, daß jedes Kind von seinem mög¬
lichst 1. Jahre an beginne, einen Teil dieser Memorier¬
arbeit zu leisten uncl sie bei seiner Reife beendet habe.
Wollte diese Gesellschaft sich erhalten, so müßte sie wohl
diejenigen, die ihr Jahrespensum nicht erreicht haben, töten.
Ich schätze, daß es sehr schwierig sein würde, dieses Resul¬
tat mit einer nötigen Anzahl von Überlebenden zu erreichen,
d. h. es müßte im Zentrum der gesamten Fjziehung diese
Aufgabe stehen und jede Sekunde des Kindeslebens wäre
durch eine Rücksicht auf sie determiniert. Die Erziehung
erfüllte ihre Funktion, das Kulturplus zu vermitteln, indem
sie eines seiner Elemente als das wichtigste allen anderen
vorzuzichen hätte, es gegebenfalls auf deren Kosten erreichen
würde. Unsere bürgerlidi-kapitalistisdie Gesellschaft ist ein
ungeheures Magazin von Sinnlosigkeiten, diese aber ist
'weder wörtlich noch symbolisch in ihm enthalten. Man kann
95
unserem Produktionsprozeß und seinen ganzen Folgen,
unserer Wirtsdiaft, nicht vorwerfen, daß zu ihrer Erhaltung
besonders lange, besonders komplizierte Vorbereitungsma߬
nahmen in den wirtschaftenden Individuen nötig wären. Die
weitaus überwiegenden Einzeltätigkeiten, aus denen sich
unsere gesellschaftliche Wirtschaftsarbeit zusammensetzt, sind
von Kindern zwischen acht und zwölf nach kürzester Lern¬
zeit, ja ohne sie leistbar. Sie wurden lange genug und
werden auch jetzt noch in großem Maße tatsächlich von
diesem Alter geleistet. Den Kindern fehlt Körperkraft, Er¬
fahrung, Widerstandsfähigkeit, Ausdauer, werden sie aber
älter, so stellen sich diese Eigenschaften ein oder sind durch
Zwang erreichbar. Der Jugendliche erlernt die Wirtschafts¬
tätigkeit in wenigen Wochen, in längstens ein bis zwei
Jahren, ohne daß sein Kindheitsleben irgendwelcher spezieller
Vorbereitungen bedurft hätte. Nur ganz wenige, übrigens
ökonomisch sehr unwichtige Berufe bedürfen einer spezi¬
fischen Vorbereitung in der Kindheit, das Seiltanzen, Piano¬
virtuosentum und erbmonarchische Regieren etwa. Zerstört
man etliche tief abergläubische Überzeugungen in sich, etwa
die, daß Diplomaten und Politiker, Bureaukraten, Juristen,
Bankiers viel jähriger Ausbildung bedürfen, der noch überdies
eine viel jährige spezielle Kindheits- und Jugenderziehung vor¬
aufgegangen sein muß, so wird man finden, daß, von ganz
wenigen Gruppen und Individuen abgesehen, die Vorbereitung
zur Wirtschaflsfähigkeit nicht zu den zentralen Funktionen
unserer Erziehung gehört, die Wirtschaftsweise nicht zu jenen
Elementen des Kulturplus gehört, deren Erreichung zur tra¬
genden Funktion der Erziehung geworden ist. Trotzdem ist
unsere Erziehung bis in ihre nebensächlichen Details von
Geburt an auf die Wirtschaft eingestellt. Und zwar aus dem sehr
einleuchtenden Grund, weil sie den zweiten Grenzfall darstellt;
sie ist durch Macht, durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt*
96
Es ist eine recht betrübliche Komplikation, die unsere so
einfache Formel der Funktion der Erziehung durch diese
Tatsadie erhält. Noch betrüblidicr aber ist, daß diese Kom¬
plikation durch allerhand Umstände so sehr verdunkelt ist.
Die intensivste Dunkelheit geht von der Pädagogik aus. Wir
haben diese Tagnachtlampe beiseite gestellt. Wollen sehen, ob
wir uns nunmehr rasdi genug, um Verleger nidit durdi zu
dickes Manuskript, Leser nidit durch zu gelehrtes 1 ormat
abzuschrecken, in dem verbliebenen Naturschwarz zuredit-
tappen können. Wie es so wurde, weiß der gebildete Leser
oder kann es in seinem Bücherfadi nadilesen. Es kam Jeden¬
falls so zwischen 1300 und 1500 im Abendland zur kapitali-
stisdicn Klassen gesell sdiaft und kommt so seit 1789 immer
besser und bunter. Uns interessiert nichts vom ganzen Drum
und Dran, sondern das Einfadiste und Wcscntlidiste, daß in
solcher Klassengesellschaft die Wirtschaft keineswegs dazu
dient, den Hunger der Menschheit, idi meine jedes einzelnen
Menschen, zu stillen, sondern dazu, den durch Genuß über¬
reizten Appetit ihrer Minderheit, und zwar einer recht
unbeträditlidicn Minderheit, der Angehörigen der herrschenden
Klasse bis zur Übersättigung zu befriedigen. Wobei als idealer
Wirtsdiaftszustand der intendiert wird, in dem die herrschende
Klasse nidit nur von jeder körperlichen Arbeit befreit ist,
sondern ihre wirtschaftliche Tätigkeit sidi im Konsum der
Wirtsdiaflsgüter und in der Produktions-Leitung, also in einer
künstlerisdien, spielerischen, von äußerem Zwang freien, der
eigentlich mensdilidien, Arbeitsart erschöpft. Daß diese über¬
aus gebildete und kultivierte Wirtschaftsordnung, die sidi
mit Recht als gottgewollt bezeichnet, — denn daß sie von Men¬
schen nidit gewollt sein darf, duldet keinen Zweifel — der
Mehrheit der Betroffenen wenig gefällt, das ist ihre wunde
Stelle. VVar um die besagte Mehrheit die Minderheit nidit
einfadi vernichtet hat, ist nur sehr schwer einzusehen. Gedacht
Bernfeld, Sisyphos 7
97
hat sie daran, sie hat es gelegentlidi auch versucht. Ich kann
nicht finden, daß sie dabei glüchlidi verfahren ist. Entsdiuldi-
gungsgründe bietet sehr reichlich die Tatsache, daß die
herrschende Klasse sich natürlich nicht damit begnügt, die
Wirtschaft zu beherrsdien, sondern daß sie klug und kon¬
sequent jegliche Herrschaftsposition besetzt und zur Sicherung
ihrer wirtschalUidien Situation verwendet hat. Sie liegen
audi in sehr merkwürdigen ökonomisdicn Tatsadien, denn
dieses wie jedes ökonomische System hat seine autonome
Logik, sie heißen diesen Falls die Gesetze des Kapitals. Zu
ihnen gehört ein Faktor, der für die Nationalökonomie
nicht von solcher Wichtigkeit ist wie für die Erziehungs-
wissensdiaft. Die Herrsdiaftsgewalt der herrsdiendcn Klasse
ist in der mannigfaltigsten Weise verschleiert. Die aus¬
gebe utctc Mehrheit ist nidit nur in gewissen widitigen Be¬
langen an die Interessen der herrschenden Klasse gebunden,
sie ist nicht nur in ihrer eigenen MachtentWicklung gebrochen,
indem weite Kreise von ihr der herrschenden Klasse näher¬
gerückt sind als ihrer eigenen, die Bourgeoisie weiß auch
diese verbliebene Macht von den eigentlichen Quellen abzu¬
leiten. Dem Proletariat wird der Feind geheimgehalten und
es werden ihm Pseudofeinde präsentiert, an denen es seine
Affekte abreagieren und durch Serien vergeblidier Revolten
seine Machtlosigkeit resignierend erleben soll.
Es ist bekanntlich die Arbeiterbewegung, der Marxismus,
dem es zu verdanken ist, wenn dies dem Bürgertum nidit
völlig gelang, es ist die Folge, des ferneren, der Tatsadle,
daß das Klasseninteresse der Bourgeoisie seinerseits den
Gesetzen des Kapitalismus unterworfen ist, das der Aus¬
beutung gewisse Grenzen, der Sozialreform gewisse Ziele
setzt, es ist schließlich das Ergebnis der historischen Situa¬
tion, daß nämlidi das Bürgertum aufstrebend revolutionäre
Aufgaben gegenüber der es beherrschenden feudalen Klasse
98
f»
hatte und der Hilfe des Proletariats bedurfte, die - ungern
und untreu genug - bezahlt werden mußte. Allen diesen
Mäditen gegenüber hat die herrsdiende Klasse als sehr
respektables Kampfmittel die Erziehung. Sie verleiht ihr
eine Tendenz: Die Madit der herrschenden Klasse zu sichern.
Diese Maditsicherung ist durdi die Erzielung des Kulturplus
in der heranwadisendcn Generation nidit gegeben. Inzest-
scheu, Schuldgefühl mit allen seinen seelisdien und geistigen
Folgen und Sdiöpfungen, die ganze 1 ülle europäischen
Könnens und Wissens, und die Beherrschung der heutigen
Produktionsweise, dies alles begreift nodi keineswegs in sidi
die Bejahung der konkreten Machtbeherrschung und Gewinn¬
verteilung, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung heißen.
Denn die Herrschaft der Bourgeoisie ist eine Zwangs- und
Gewaltherrschaft; eine soldie kann durdi kein anderes Mittel
als durdi fortgesetzte Zwangs- und Gewaltherrschaft erhalten
und fortgepflanzt werden. Sie kann eben nur weitergepflanzt
werden. Das heißt, im Grunde bedarf es keiner Erziehung,
da ihr wesentlidistes Zielstück ohnehin nur durdi Madit-
ausübung erreidit werden kann. So war es audi lange genug.
Wem war es vor Pestalozzi eingefallen, die »Armen zu
erziehen? Die bedrohte Klassenherrschaft erst ist es, die in
die Erziehung, w r eldic ihre Funktion still und selbst verstäncl-
lidi erfüllte, eine Tendenz einführt. Und zwar um die Madit -
ausübung zu erleiditern, die neuen Gegenmaditkonzentra-
tionen, die dein Bürgertum in der organisierten Arbeitcr-
sdiaft erwachsen, zu paralysieren. Die Erziehung wird ein
Gegenstand öffentlichen Interesses.
Die Tendenz ließe sidi von einem unvorsiditigen, aber
sehr klugen und klassenbewußten Bürger Madiiavell etwa
so formulieren: die Kinder müssen die bürgerliche Klasse
lieben lernen. Und dieser Unterridit muß so nadidrücklidi,
so sicheren Erfolgs sein, daß ein ganzes Leben, in Not und
7 *
99
Sklaverei verbracht, nicht hinreicht, diese Liebe zu verlöschen.
Was in Wahrheit gewaltsam erzwungene Ausbeutung ist,
wir wissen es, soll ihnen als freiwillig dargebradites Opfer
der Liebe erscheinen. Sie sollen Mehrwert leisten, aber sie
sollen es gern tun, aus innerem Liebeszwang, so wie
der Liebhaber seiner Geliebten, der Gläubige seinem Gott
opfert.
Bei Gott, Bürger Machiavell ist ein kluger Mann. Wir
ernennen ihn zur Exzellenz Unterrichtsminister und beauf¬
tragen ihn, dies teuflische Kunststück durchzuführen. Er —
schlau wie er ist — studiert keineswegs als Vorbereitung
experimentelle Didaktik, belegt kein einziges Kolleg von
Spranger, hat eine diabolische Art, Sterns Kinderpsychologie
und K W. förster zu loben, ohne sie zu lesen, aber er hat
die Psychoanalyse profund kapiert und hält den Hofräten
und Vortragenden Räten seines Ministeriums ungefähr die
folgende Programmrede (gekürztes Stenogramm):
»* - * Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage idi Ihnen fol¬
gende organisatorische Maßnahmen vor. Sie müssen nämlich
verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das
entscheidende Problem ist, das wir konsequent und uner¬
bittlich unserem Einfluß restlos Vorbehalten müssen, während
wir die Lehrplan- und Unterrichts-, seihst Erziehungsfragen
beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozial¬
demokraten überlassen können. Doch werde ich auch in dieser
Zulassung taktisch vorgehen. Sie wird gefordert werden, wir
lassen lange um sie kämpfen, und gewähren sie in Form
von Konzessionen immer dann, wenn wir eine Ablenkung
der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für nötig halten.
Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der
bürgerlichen Jugend von der proletarischen. Ich hoffe, Sie
vergessen keinen Augenblick, daß wir uns in geheimer Amts-
100
Sitzung befinden, und werden sich hüten, der Presse diese
Formulierung mitzuteilen. Es ist dies auch nicht nötig, denn
die bürgerliche Jugend sind die Kinder jener Familien, die
vor jeder Proletarisierung in dieser Generation völlig ge¬
sichert sind. Es sind nicht sehr viele. Aber es sind die, auf
die es ankommt. Wir haben sie keineswegs in getrennten
Schulen zu erziehen. Dies würde unnötiges Aufsehen erregen.
Und das Vermögen und soziale Ansehen ihrer Väter sichert
ihnen ohnedies eine ungestörte Sdiullaufbahn. Sie sind die
erblichen Herrscher unserer Gescllsdiaft und Wirtschaft, be¬
stimmt, ihre Macht ungekrönt und unbekannt sogar auszu¬
üben. Es wird ihnen nützlich sein, den Zauber soldier In¬
kognitoexistenz und die Befähigung hiezu an Schule und
Universität frühzeitig zu erfahren und zu üben, sdicinbar
völlig gleich allen anderen, in Wahrheit schon die Herrscher
mit der Schiefertafel — die wir übrigens absdiaffen sollten,
da wir nicht genug llevolutiönchen madien können, und Sie
sollen sehen, wie unser Staat ein Jahrzehnt lang von der
wichtigen Frage: Schiefer oder Papier für Schulanfänger
widerhallt! Wenn idi sage, wir wollen die bürgerliche
Jugend von der übrigen trennen, so meine ich die
Kinder jener Familien, deren künftige Klassenzugehörig¬
keit unsicher ist, die wir mit den Thronfolgern zusammen
erziehen, aufwachsen lassen wollen. Sie werden sich, infolge
der libidinösen Identifikation, wie Bemfeld sagt, für ihr
Leben unseren Kapitalfürsten anschließen und ihnen treue
Lchensritter sein. Natürlich bloß mit der Treue, die Lehens¬
rittern seit alters her spezifisch war. Die provisorisdie Treue.
Sie werden sidi redlich bemühen, an die Stelle des Fürsten
zu gelangen, sein Land — ich meine das bildlidi, wie Sie
wohl verstehen - zu erobern, den Fürsten zu töten. Aber,
und wenn ihr Gehalt kaum zum Leben hinreichen sollte,
sie werden zwar die persönlkhcn Feinde aller Besitzer, aber
101
nimmermehr des Besitztums sein, mit dem sie identifiziert
sind. Eine tüchtige Identifikation zeugt Hoffnungen, denen
lebensliinglidie Enttäuschungen nichts anhaben. Idi empfehle
also einen IntellektueUenstand zu schaffen, indem Sie die
quasi bürgerliche Jugend durch eine Bildungski uff von der
proletarisdien trennen und sie durdi Identifikation für
ewig im Wünschen und Denken mit der besitzenden Klasse
verknüpfen. Diese psydiologisdie Basis erst wird sie gegen
die Einsicht ihrer ökonomischen Situation sichern und ihre
individuellen Chancen für den ökonomischen Aufstieg, die,
wenn auch klein, im Prinzip vorhanden sind, im Sinne ihres
Ideals erkämpfen lassen. Kur so erreichen wir die para¬
doxen Existenzen, die ohne Besitz für ihn kämpfen, denn
der integre Bestand unserer Klassenherrschaft gibt ihnen die
Chance, ihr Ideal zu erreichen, ja es ist mit ihr eigentlich
sdion erfüllt. Enter zwanzig Jahren werden wir keinen dieser
Jünglinge, womöglidi keinen unter fünfundzwanzig Jahren,
in die wirtsdiaftlidie Realität eintreten lassen. Jeder soll ad
libitum die Glücksmöglichkeiten des Besitzes kosten, sie
sollen sich ihm mit der Lust der jungen Erotik, mit Freiheit
und Trubel unlöslich verknüpfen, er soll in diesen gefähr-
lidien Jahren, wo Querköpfe, und in der Pubertät wird
man sehr leidit querköpfig, bereit sind, die Gesellschaft auf
Gerechtigkeit und Recht zu prüfen, sie nidit kennen lernen in
ihrem wirklichen Bestand. Und wenn er sie mal kennen lernt,
soll er sie und ihre Vorteile, für sidi und den Besitzenden
überhaupt, nidit mehr entbehren können; Sie sollen sehen,
wie er sie gründlich auf Grund seiner erlernten Philosophie
bejahen wird. Idi werde verbieten, daß man Studenten auf
den Universitäten duldet, deren Väter sidi nidit zu einem
largen Taschengeld entschließen wollen und können. Solche
Kerle sind in höchstem Maße staatsgefährlkh... Diese Jugend
bleibt also bis in die zwanziger Jahre in der Schule. Das
102
heißt, meine Herren, ich warne Sie aufs ernsteste, sidi hier
in die pädagogischen Fragen einzumengen. Hierin haben Sie
keinerlei Meinung und Überzeugung zu haben. Vergessen
Sie nicht, Sie sind Beamte eines Unterrichtsministeriums. Als
soldie haben Sie in Unterriditsfragcn strengste Neutralität
zu wahren; es kann allerdings opportun sein, gelegentlich
einen anderen Anschein zu erwecken. Was in diesen bür-
gerlidien Schulen mit der Jugend geschieht, ist völlig gleich¬
gültig. Denken Sie diesen Gedanken durch! Wichtig ist bloß,
wer in sie aufgenommen wird, und ob die Anstalten der
quasi bürgerlichen Jugend die Möglichkeit geben, die An¬
nehmlichkeiten eines kultivierten Lebens schätzen zu lernen,
verbunden mit der Erkenntnis, daß diese nur durch den
Bestand unserer vortrefllidien Ordnung gcsidiert, lür sie
selbst, gesidiert sind. Wir müssen durdiaus das Vorbild der
englisdien Colleges erreidien. Doch empfehle ich Ihnen den
Namen Landeserziehungsheim oder zur Verwirrung der revo¬
lutionären Jugend den der Sdnd gemeinde. Schütteln Sie nicht
die Köpfe! Wir dürfen nicht kleinlidi sein. Idi werde ver-
sudien, jeden Unterricht in diesen Schulen abzusdiaflen,
dodi sehe ich, daß wir eine Übergangszeit nötig haben, für
sie gilt: Unter Berücksichtigung des Prinzips der Jugend¬
gemäßheit aller Erziehung ist die Pubertät, die idealistisdic
Lebenszeit kat exodien, mit großen Worten zu fidlen. Als
solche werde idi vorsdireiben: Vaterland — Kultur —
Nation - Kultur — Wissensdiait — Kunst — Kultur —
Volk - Rasse - Kultur. Die Lehrer werden beauftragt
sein, zu glauben, daß dies die Maßstäbe und Merkmale des
Fortschritts sind, und werden zu zeigen haben, daß die
letzten Jahrhunderte eine Kette von glücklichen Entwicklun¬
gen sind, untcrbrodien von kulturfeindlichen Revolutionen, die
ja Kultur werte zerstört haben, während die Volksrestaurationen
sie vermehrt haben. Da doch unsere Klasse clie kultiviertere,
103
wohlhabendere und glücklichere ist, repräsentiert sie das
Volk, und dieses soll allgemach zu ihr erhoben werden. Bis
dahin wird statt „unsere Klasse” natürlidi Volk gesagt. Ich
wette, keiner der Lehrer wird hier eine Schwierigkeit finden.
Sie werden bei den klassischen Autoren und bei den Dichtern
des vorigen Jahrhunderts sehr braudibaren diesbezüglichen
Lesestoff finden. Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja
nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese
Jugend etwas lerne. Sie dürfen nicht altmodisch sein; es ist
hingegen sehr nützlich, wenn es die sozialistischen Parteien
sind. Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste
Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von
selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens. Wir
brauchen nur ein paar Stichworte zu geben, um den von
selbst keimenden Gedanken die Autorität eines Kulturgutes
zu verleihen. Im übrigen muß die Jugend zu Selbstbewußt¬
sein erzogen werden. Sie muß von ihrem Adel, ihrer Schön¬
heit, ihrer Kulturmission überzeugt sein. Scheuen Sie sich
nicht, hier Wyneken zu verwenden. Es ist ganz ungefährlich.
Denn alle Gefahrenkeime heben Sie auf, wenn Sie dieses
Selbstbewußtsein der Jugend auf ihre Klasse übergehen lassen.
Wir sagen natürlich Volk, Deutschtum und nicht Bürgertum.
Gewiß, das deutsche Volk neigt sehr dazu, diesen Begriff Volk
nicht zu akzeptieren. Es ist dies eine ungeheuer gefährliche
Tatsache. Sie kann aber paralysiert werden durch eine ver¬
hältnismäßig leichte Reform. Sie verlangt nur den Mut zu
einer völligen Dummheit. Man müßte die unbewußte Angst
des Deutschen, die einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl
entspringt, in Aggression wenden. Man müßte die Deutschen
glauben machen, sie hätten einen ungeheuer mächtigen, ge¬
meinsamen Feind, der unsere, ich meine des Volkes, heiligsten
Kulturgüter gefährdet, den man durch gemeinsame, ungeheure
lat zu vernichten hätte. Nur freilich darf das kein wirklich
104
gefährlicher Feind sein, etwa Franzosen, sonst entsteht ja
Realangst, und wenn wir ihn etwa besiegen, so stehen wir,
wo wir vorher standen. Es müßte eine Fliege, ein Nichts
sein. Das hätte auch den Vorteil, daß wir romantische Ele¬
mente, die dem Deutschen und seiner Jugend liegen, mit
verwenden könnten. Was meinen Sie zu einem Geheimbund
von Fremdländischen, der die Deutschheit verfolgt? Man kann
große Menschenmengen zu tiefen Identifikationen unter¬
einander und mit irgendeinem Menschen bringen, wenn sie
vor einer gemeinsamen unheimlichen Gefahr stehen nnd
Irgendeiner springt vor und rettet sie. Verstehen Sie allmäh¬
lich, was ich vorhabe? Wir versetzen die Jugend - und
mit ihr die Gesamtheit - und zwar vorerst die quasi bür¬
gerliche Jugend, in panischen Schrecken vor einer unheim¬
lichen Madit, die sie bedroht, und dann springen Wir als ihre
Retter vor und Führer. Lesen Sie von Professor Freud: Massen¬
psychologie - ein sehr brauchbarer Autor, sage ich Ihnen,
wenn das nur die Sozialisten nicht auch merken, aber zum
Glück scheinen sie ihn für einen Bourgeois zu halten -
also bei Freud holen Sie sidi die Überzeugung, daß mein
Vorschlag gelingen muß. Der bürgerlidie lypus, die bürger¬
lichsten Individuen würden zu den Idealen der Jugend wer¬
den, und sie würde in diesem Ideal sich zu einer selbstbe¬
wußten, stolzen, exklusiven Gemeinsdiaft bilden, die zugleidi
restlos führbar wäre. Wenn wir nur den Feind hätten. Es
ist sdiwer, ihn zu finden, denn er darf nicht da sein, und
muß doch glaubhaft sein. Ich empfehle, die Juden zu diesem
Feinde zu ernennen. Sie sind wirklich ungefährlich. In
Deutschland stehen dieser Ö00.000 (mit Weib, Kind, Tuber¬
kulose und Krebs) gegen 60,000.000. Das ist ein gutes
Verhältnis. Und sie sind wirklidi ein in jeder Hinsicht
braudibarcs Volk; sie werden uns selbst helfen, in dieser
oder in jener Weise. Sollten sie aber ja einmal geprügelt
105
oder totgeschlagen werden, so sind deren in anderen Städten
und Ländern genug übrig, um den Schrecken vor ihnen
permanent zu erhalten. Mit Hilfe des sorgfältig gepflegten
und angewandten Antisemitismus erhalten wir jene stolze und
selbstbewußte, nämlich von sich, ihrer Wertigkeit, ihrem
Volks- und Rassenadel durdidrungene bürgerliche Jugend,
die identifikatorisdie Bestrebungen bis in weite Schichten
des Proletariats erwecken wird. Und auf diese Haltung und
Einstellung des Proletariats kommt es uns an. Damit kommen
wir an jene Organisationen der Erziehung, die sich an die
proletarische Kindheit und Jugend wenden. Wir sind in
völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Industrie,
wenn wir den Grundsatz strenge durchführen werden: die
proletarische Jugend gehört in die reale Wirtschaft, in die
l abrik. Ls dient auch dem wohlverstandenen Interesse des
Kapitals, w T enn auch nicht immer dem Wunsche jedes ein¬
zelnen Unternehmers, die Kinder bis zu einem gewissen
Grad der Arbeit zu entziehen und sie in den Schulen zu
sammeln. Als den für unsere Zwecke günstigsten Termin für
den Sdi ul beginn habe ich das sechste Lebensjahr erkannt.
Das Kind hat eben eine überaus wichtige Katastrophe, psy¬
chologisch, ja psychoanalytisdi gesehen, hinter sich, oder be¬
findet sidi in ihr. Es hat vor der väterlichen Besitzmadit,
unter starker Angstentwicklung kapituliert und auf den
Besitz der geliebten Mutter verzichtet. Es sucht nun für seine
ungebundene Liebe neue Objekte. Sie sollen ihm in Gestalt
seiner Lehrer, noch besser wären prinzipiell unverheiratete
Lehrerinnen, unserer Agenten, entgegentreten. Es hat sich
aber zugleidi eine sehr tiefe Einsidit in seine eigene Unzu-
länglidikeit geholt, damit die Bereitsdiaft, sidi Autoritäten
zu unterwerfen, die noch unterstützt wird durch die in
diesen früh kindlichen Kämpfen und Ablösungen entstandene
Instanz im eigenen Ich, das Schuldgefühl, die Strafbereit-
106
schaft. Erwadit nun irgendeine Regung der Ablehnung, so
wird sie sidi in der Autorität der Sdiule die empfindlichste
Niederlage holen. Dabei sorgen wir dafür, daß die Sdiule
eine Staats- und Volkseinrichtung wird, und erreidien so,
daß das Kind den Staat und das Volk als eine erweiterte
Familie auffassen lernt; was zwar grundsätzlidi falsdi ist
und selbst für unseren Staat nur sehr teilweise gilt, aber
die günstigste psydiologisdie Atmosphäre für seinen Bestand,
das sicherste Sdiutzmittel — soweit eben psychische Ange¬
legenheiten hier mit wirken gegen jede entschiedene
Gesellschaftsrevolution ist. Wie die Familie, sage ich: da ist
der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch freundlich
ist, wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und
übermächtig. Er trägt den schönen Titel: Direktor. Da ist
die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber
launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch
Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor dem Direktor zu zittern
hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden,
nach Sitte und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber
freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle Betrieb der
freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben
gelangen auf den ersten Platz in der Klasse und in der
Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im V issen
oder im Schwindeln, im Schmeicheln oder in der Lnergie. Die
inhaltliche Erfüllung dieses Betriebes geht dahin: Schul-und
Bücherwissen über alles hoch und jenseits jedes Zweifels zu
stellen. Und in diesem Rahmen werden die Geschichten, die
die Lehrer den Kindern von der bürgerlichen Gesellsdiatt
erzählen, ihren Zweck, nidit verfehlen . . . Die Krönung
dieses Schulwesens ist aber in der Organisation der Puber-
tätserzichung gegeben, die ich besonders sorgfältig durdidadit
habe. In dieser Zeit entstellt eine neue Welle von Autoritäts¬
ablehnung und die Neigung, das eigene Leben und das der
107
Gesamtheit einer Art sittlidier Revision zu unterziehen. Wir
müssen bemüht sein, die Früchte der Kindererziehung diesen
Gefahren zu entziehen. Daher werden die jungen Proletarier
ihrer Ökonomischen Situation völlig überlassen. Ihre Eltern
werden sie zu wirtschaftlicher Selbständigkeit treiben, und
sie werden in Fabrik und Lehre, wenn wir nicht eingreifen,
ein ihren erwachsenen Klassen genossen völlig gleichartiges
Leben führen, ja da zu erwarten ist, daß ihre Gewerkschaften
schwächer sein und die Organisationen der Erwachsenen für
sie weniger stark eintreteten werden, müssen sie unter
einem härteren Drude der Ausbeutung stehen. Sie werden,
da ja die Schule sie dahin vorbereitet hat, auch die Fabrik
und das ganze Wirtschaftsleben unter der affektiven Ein¬
stellung der Familie - unbewußt, versteht sidi - auffassen.
Das heißt, sie werden ihre Aggressionen und Liebeswerbungen
auf den persönlichen V orgesetzten oder den Einzelunter¬
nehmer richten. Die sozialistischen Parteien werden es sehr
schwer haben, ihnen dahinter die bürgerliche Klasse zu
erweisen. Wenigstens wird die Anfklärung nicht in tiefere
seelische Schichten dringen. Die Pubertät, eine Zeit intensiver
sexueller Anwandlungen, wird zu Sexualisierungen ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeit drängen, da in dieser Fabriks- und
Familienenge zu höheren Sublimierungen kein Platz ist. Der
wirtsdiaftliehe Bezirk wird sich ihrem unbewußten Denken
mit dem sexuellen vermengen, der aussdiließend Besitzende,
der Unternehmer, oder auch sein Direktor oder Werkführer,
wird ihnen V ater sein. Und hiemit wird die überwiegende Menge
in ihrer Aggression und Auflehnung, so lärmend sie auf-
treten mag, innerlichst gebrochen sein, denn sie ist paralysiert
durch die Erinnerung an die infantile Katastrophe, die der¬
selben Situation entsprang, und wird gebunden sein durch die
ebenso unbewußte Liebe zum und Identifikationstendenz mit
dem Vateruntemehmer. Die wirtschaftliche Selbständigkeit
108
der Jugendlidien wird diese Identifikation stärken. Und
sollten etwelche trotzdem einen Ausweg aus ihrer Situation
suchen, sollten sie erkennen, was sie in ökonomisdier
Sklaverei hält, so werden sie wahrsdi ein lieh, durch die Sdiule
und durdi die öffentliche Meinung, durdi die klug vor¬
bereitete Verwirrung der Begriffe Kultur und Bildung, die
audi die Arbeiterparteien nur sdvwer durdisdiauen werden,
das Leben der von ihnen getrennten bürgerlichen Jugend
anstreben, und Bildung suchen, und zwar natürlidi jene, die,
wie sie meinen, den Wert und die Macht der bürgerlidien
Jugend und Gesellschaft ausmadien. Sie werden sie nicht
finden . . .“
Unterriditsminister Madiiavell hat in dieser Weise noch
lange und sehr ins Detail gehend gesprochen, als ihn die
Verwunderung und Bcfremdung, ja die Wut der Hofräte
belehrte, daß er wörtlich das Bestehende vorgeschlagen habe,
nur in einer völlig staatsfeindlidien, zynischen, unwahren,
unidealen Weise. Man zweifelt nicht, daß dieser sein erster
Regierungsakt audi sein letzter war. Wir haben ihn aber so
lange beim Wort gelassen, weil, so meine ich, gerade seine
Rede für all das sehr lehrreich ist, was idi die Tendenz in
der Erziehung nenne, obglcidi er meistens nur von der
Erziehung im engeren Sinne sprach. Und obglcidi er den
psychologischen Standpunkt entschieden zu sehr in den
Vordergrund rückte.
Die Tendenz schafft selten eine Erziehungseinriditung r
und kaum häufiger eine Erziehungsmaßnahme, aber sie färbt
sie alle in einer bestimmten Weise; gibt ihnen die Ideologie
und Rechtfertigung; und unterdrückt Erziehungseinriditungcn,
-Maßnahmen, Ideologien, die ihr zuwider sind. Sie ist in der
Klassengesellschaft, in jeder auf Macht aufgebauten Gesell¬
schaft, gänzlich unvermeidlich. Ich mödite eine eingehendere
109
Erörterung ihrer Beziehung zur organischen Rekapitulation,
zur libidinösen Identifikation, zur Kulturpluserzielung, zur
Funktion und den Konstanten der Erziehung, für das letzte
Kapitel aufsparen; hier schon aber will erwogen sein, daß
das Kulturplus als solches Bestandteile, Kenntnisse sowohl
als Kräfte enthält, die gegen den Bestand der bestehenden
Ordnung, gegen die bestehenden Madit Verhältnisse, gegen
die bestehende Wirtschaftsweise, geruhtet sind. Die Funk¬
tion der Erziehung wäre es, sie ebenso wie deren Feinde der
heran wadisenden Generation zu vermitteln. Die Tendenz
sdiränkt diese konservative Funktion ein, indem sie Werte
setzt, die gegen die herrsdiende Madit geriditeten Elemente
des Kulturplus entwertet, auf den Aussterbe-Etat setzt, um
mit der von soldien Tendenzen beeinflußten heran wach senden
Generation eine Sidterung ihrer Position zu erlangen. Die
Tendenz ist notwendigerweise an das Bestehen einer Instanz
gebunden, die sie durchsetzt, und diese Instanz kann in
niemandes anderen regulierenden Händen liegen, als in der
Gruppe, die letzten Endes die gescllsdiaftlkhe Madit besitzt,
und das ist heute das Weltindustrie- und Finanzkapital.
Aber nicht einmal mit der Aufdeckung der Tendenz sind
wir ans Ende der Komplikationen gelangt. Leider, ruft der
Sdiriftsteller, der sidi bemühen muß, auf wenigen Seiten,
womöglidi ohne langweilig zu werden, diesen komplizierten
Aufbau mit Worten verständlich zu machen; Gott sei dank,
antwortet der menschenfreundliche Leser, den diese theore¬
tischen Bemühungen wenig interessieren, der vielmehr all
dies nur soweit zur Kenntnis nimmt, als er hofft, vom Autor
endlich zu erfahren, was nun zu tun sei, was zu tun möglich
wäre; also leider oder Gott sei dank, gewiß aber: die Er¬
ziehung in unserem Zeitalter ist nicht von e i n e r Tendenz,
sondern von deren zweien geleitet und gefärbt. Entsprechend
den zwei Machtgruppen, deren unentschiedener, aber hart-
110
nackiger Kampf das Leben auf diesem unglücklidicn Planeten
so unsidier, so unliebenswürdig, so fragwürdig und dunkel
ersdicinen läßt, daß es überhaupt erträglich erst dann wird,
vielleidit, wenn man ihm als Sinn eben diesen gigantisdien
und dummen Kampf setzt. Wir leben bei weil ein nidit mehr
in einer stabilen Herrsdiaftszeit der bürgerlidien Klasse.
Wahrsdicinlidi hat es derartig idyllisdien Zustand nie, auch
nidit für einen Augenblick gegeben. Immerhin, man kann es
Romantikern und Sentimentalen gönnen, ihn anno 1500
oder 1800 anzunehmen. Er ist vorbei, unwiderruflich. Der
Sozialismus ist ein Maditzentrum, dessen Tendenzen audi
die Erziehung beeinflussen. Idi spreche vom Sozialismus und
meine die Arbeiterbewegung, die im wescntlidien den heu¬
tigen Sozialismus ausmacht, aber indem idi dies feststelle,
darf idi ruhig weiter von ihr als vom Sozialismus sprechen.
Der Sozialismus hat die Macht der Kapi talklasse nicht gebrodien,
er wirkt nidit an ihrer Stelle, aber er hat ihre Maditäußerungen
eingesdiränkt, er zwingt zu Umwegen, zu Sdileidiwegen, zu
Kompromissen, zugleich freiIidi zu energischeren Sicherungen,
zu entsdiiedeneren tendenziösen Einsdircitungcn und Unter¬
drückungen. Das eine oder das andere oder beides tritt ein,
je nadidem die relative Macht des Sozialismus gestiegen oder
gesunken ist, oder anzusteigen droht. Wir können hier nidit
den wunderlichen Linien folgen, die die Trabanten eines
Kräftesystems als ihren Lebensweg zu nehmen gezwungen
sind, das nidit nur zwei Zentren hat, sondern verschieden
starke, instabil in ihrer relativen Stärke, mobil in ihrer
relativen Lage. Aber wir wollen uns den Eindruck sidiern,
daß die Ideologie, die Tendenz in der Erziehung zu einer
überragenden licdcutung gelangen muß, hei so verwirrten
Konstellationen.
Der Sozialismus hätte bereits gesiegt, spätestens 1Q18, wenn
er die bchcrrsditc Klasse in ihrem ganzen Umfang erfaßte.
111
Es ist Sache der Ökonomen, die Widerstände, die seiner
Ausbreitung im legitimen Gebiet entgegenstehen, auf ihre
wirtschaftlidicn Ursachen zu prüfen. Wir haben es mit ihren
psychischen Parallelen zu tun. Und drücken den audi ökono¬
misch ausdrückbaren Tatbestand aus, indem wir sagen: Es
mangelt ihnen an Einsicht in ihre AusbeutungsSituation oder
in die Möglichkeit einer anders strukturierten Gesellschaft;
oder es mangelt ilinen an Mut; er ist ihnen durch die Wer¬
tungen der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen, die sich auf
die Unschützbarkeit ihrer Kultur, die nun freilidi durch den
Sozialismus in Frage gestellt ist, auf die Unverletzlichkeit
von Besitz, Person, Hecht, die freilidi durch die Revolution
bedroht sind, beziehen; oder der Vollzug derTat der Revolution,
die Ermordung des Urvaters Wallstreet und die Besitz¬
ergreifung der Urmutter Boden und Kapital ist durch Schuld¬
gefühl und Angst, die vor und hinter ihr stehen, gesidiert.
Soll die herrschende Gruppe ihre Macht festhalten, so muß
sie die Ausbreitung der Einsicht und die Minderung der
Angst verhindern. Viele Umstände helfen ihr bei diesem
Mühen. Die Ideologie ist das konzentrierteste Mittel. Sie darf
ihren Unterriditsministcr nicht sprechen lassen wie es Bürger
Madiiavell täte, so lange nidit und dann nicht, wenn sie
Hoffnung hat, durch die Einkleidung ihrer Maßnahmen zu
täuschen über deren Absichten, zu verwirren über den realen
Zustand. Mit jeder Handlung, die die Gegenmacht sdiwächen
soll, verknüpft sie eine Geste, eine Rechtfertigung, die ihr
Proseiyten der Einsichts- und Mutlosigkeit im Lager der
beherrschten Klasse machen soll. In kritischen Zeiten ermög¬
lichen diese Proselyten überhaupt erst die Handlung; in
ruhigen Zeiten verstärken sie deren Wirkung, den Kraft-
abbrudi des Gegenmaditzentrums.
Der Sozialismus bedarf aus demselben Grund eben diese
Tendenz-Ideologie. Aber seine Ideologie bedarf keiner Ver-
112
logenheit, sie ist die einsichtige und mutige Formulierung
seiner Ziele, Tendenzen und Mittel. Er will nidits anderes
als die Zerstörung der herrschenden Macht, um sie selbst
auszuüben. Er kann keine Proseiyten unter irgendeiner
anderen Fahne madien; für den Gefangenen ist die Befreiung,
für den Unterdrückten die Abschüttelung des Bedrückers das
selbstverständliche und keiner weiteren Rechtfertigung
bedürftige Ziel. Die Gefangenen müssen nur zur Einsidit
gelangen, daß ihre Kerkermauern nidtt die natürliche,
unvermeidliche Art sind, in der auf Erden Räume gebildet
sind, sie müssen den Mut gewinnen, den gewohnten Aufent¬
haltsort zu verlassen. Der Sozialismus wird der Erziehung
die Tendenz geben, diese Einsidit und diesen Mut der
Jugend zu vermitteln, damit sie klassenbewußt und revolu¬
tionär zum gegebenen Zeitpunkt die Tat der Befreiung voll¬
bringe. Er kämpft für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, -
in der unsterblichen Formulierung der großen Revolution -
für Recht sdilechthin, denn die Freiheit der Unterdrückten
ist für die Unterdrückten d i e Freiheit, ihr Recht ist ihnen
das Recht. Und mehr mit Recht, als die 1‘ reiheit der
Herrschenden sich die Freiheit, ihr Recht als das Recht heißen
darf.
Soviel von der Tendenz genügt wohl, um uns die ab¬
schließenden Formulierungen dieses Kapitels vorzubereiten.
Ich will noch einiges über sie im nächsten und letzten sagen,
und behalte mir vor, in künftigen Büdiern das I hema dort
fortzuführen, wo es hier unklar und unscharf geblieben ist,
bleiben mußte, da kein Raum in dieser kurzen Sdirift ist,
das Allgemeine und Angedcutete durdi Konkretes zu be¬
legen. Dieses aller wäre nötig, denn die Tendenz ist ja die
Variable gegenüber den mächtigen Konstanten der Er¬
ziehung, die ich bisher im Vordergründe der Betrachtung
festhielt.
Bernfeld, Sisyphos 8
113
Die soziale Funktion der, Erziehung ist die Konservierung
der biopsychisdien und der sozialökonomischen, mit ihr der
kulturell-geistigen Struktur der Gesellschaft. Nichts als diese
Konservierung, diese Fortpflanzung. Was darüber hinaus-
weist, ist der Versuch, die Tendenz, zur Verewigung der
Machtverteilung von heute, und damit der psychisch-sozialen
Gegebenheiten von heute. Sie ist demnach nicht allein
Konservierung im Sinne der Reproduktion des Erreiditen;
sondern Konservierung im Sinne der Verhinderung eines
Neuen. Hier gilt nur eine Einschränkung. Die Tendenz ist der
Erziehung beigemengt, die Macht Verteilung nicht allein im
Status des Heute zu erhalten, sondern sie zugunsten der
erziehenden Macht zu verschieben. Sie ist also auch ideell
konservativ, vom Gesichtspunkt der herrschenden - und
also au di erziehenden - Gruppe gesehen.
Sie erfüllt diese ihre Funktion. Daran ist kein Zweifel.
Ob die Weltverbesserer und Ethiker, die Pädagogen und
Religiösen noch so sehr sich grämen, oder ob sie ein
ephemeres Symptom als dauernde Umkehr bejubeln - die
Kinder, die so um 1924 reif geworden, sie wie jene, die es
im .fahre 1920 wurden, und die Jahrgänge von 1500 und 12SO,
sie alle, ob sie erzogen wairden oder nicht, ob gut oder
schlecht, von diesem mit der seinen oder von jenem mit
eines anderen Methode, sie alle - scheint mir fast - sind
Menschen, wie sie eben nun in dieser Zeit und an diesem
Ort üblidi sind* Die individuellen Unterschiede verschwinden
nidit minder wie die außertypischen des Alters, es ist die
große bürgerlidie Schafherde, die schlecht und recht die
Masse Wolle gibt, die Kosten von Aufzudit, Pflege und
Vermehrung mit Profit rüdeerstattend und eins genau so
wie das andere aussehend, wie Sdiafe eben; zwar versichert
der Schäferjunge, jedes habe sein eigenes Gesicht. Ich glaube
es kaum; vielleicht täuscht ihn seine Liebe. Was kann da
tu
schon für ein großer Unterschied sein zwischen einem Schafs¬
gesicht und einem anderen Schafsgesicht. Auf die Wolle
kommt es an, ihr Freunde, und die ist, nehmt Ihr alles
nur in allem, ganz gut gewachsen in diesem Segensjahr.
8*
H5
in
MITTEL, WEGE, MÖGLICHKEITEN DER
ERZIEHUNG
Die Überschrift dieses Kapitels mag etwas recht Beruhi¬
gendes für die freundliche Leserin haben, die midi schon
mehrmals durch Einwände und Zustimmung zu polemischen
Einschränkungen genötigt hatte. Mittel der Erziehung, end¬
lich ein Vokabel, das aus der Lehrerinnenbildungsanstalts¬
zeit vertraut herüberklingt und allen bösen Fremdworten
aus Freud und Ethnographie ein Ende setzt. Und gar
Möglichkeiten der Erziehung! Das gibt Mut. Man kann doch
ein Kapitel nicht so überschreiben und einfach Zero ant¬
worten. Das gibt so viel Mut, daß die freundliche Leserin
sogar jetzt wagen würde, ihre Frage vom Ende Kap. I, S.43
beantwortet zu verlangen, wenn sie sie nicht längst schon
vergessen hätte, und wenn sie nicht, eine umgekehrte
Ariadne, den Faden im Labyrinth dieses soziologischen
Kapitels verloren hätte. Wüßte ich nidit für ganz sicher,
daß sie, nur so aus Gewohnheit von ihrer häufigeren und,
gern zugestanden, interessanteren Trambahnlektüre her, die
Einleitung gar nidit, dafür aber die letzten Seiten vorweg
gelesen hat, würde idi ihr vielleicht entgegenkommen und
den faden des vorigen Kapitels weiterspinnen. So aber
116
springe ich, meinem eigenen unsichtbaren Faden folgend,
weit zurück und stelle fest, daß die fehlende Antwort
eigentlidi sdion gegeben ist. Die Pädagogik, in Bausch und
Bogen, ist ein Werkzeug der Tendenz unserer heutigen Er¬
ziehung. Sie ist demnach ein Teil der Mittel, vermöge derer
die Erziehung ihre soziale 1 ' unktion erfüllt. Sie ist keines¬
wegs sinnlos und überflüssig. Vielmehr ein tragendes Stück
der konservativen Funktion. Sie gibt den 1 cndenz-Ma߬
nahmen die ideologische Rechtfertigung; sie gibt sie in so
verlockender Form, daß sie Proselyten schafft, - ja sie ver-
wisdit jeden Unterschied zwisdien der Sozialismus-Erziehung
und der Kapitalismus-Erziehung. Denn jene könnte an der
Ideologie zum großen Teil gar nichts anderes erfinden denn
eben diese. Es vollzieht sich hier auf dem Gebiet der Er¬
ziehung, was den Machtkämpfen des Bürgertums durchaus
und allgemein zukommt: es reditfertigt sich mit den ideo¬
logischen Formulierungen des Sozialismus.
Es geht hier etwas tief Unheimlidtes vor sich. Wir haben
es mehrmals gestreift; es wird Zeit, daß wir die teuflische
Maschinerie, die es bewirkt, endlich betrachten. Wer rollt
den Felsblodc des Sisyphos, sooft er oben auf dem Gipfel
angelangt ist, wieder zu Tal? Es ist die reine lücke, Bosheit
einer gewaltigen Macht, die es zunächst zu erkennen gilt,
soll Sisyphos von seiner Qual befreit werden. Denn an sich
hat der tüchtige Mann Sisyphos dodi fleißige, nützlidie
Arbeit geleistet und hat sie vernünftig getan. Keine Ursadie
ist zu sehen, warum sie ewig mißlingt. Der griediisdie
Tartaros scheint eine rein pädagogische Angelegenheit zu
sein, eine sonderbare Versammlung von Pädagogen, von
Repräsentanten erzieherischer Bemühungen. Da ist Tantalos
z. B. der ärmste; nah umgeben von erfrischendem Wasser
und köstlichsten ldealfrüditen, er braucht nur zuzugreifen
und könnte Durst und Hunger einer Ewigkeit stillen, so
117
scheint es, aber grausame Erfahrung, die ihm stündlich seit
Jahrhunderten wird und ihn doch nie belehren kann: Wasser
und Früchte weichen zurück vor seiner Bemühung, bis in
unendliche Fernen. O Symbolum idealistischer Pädagogik!
So nah erscheint die Verwirklichung, ein Sprung nur über
etliche Formalstufen, eine einzige geschickte Handbewegung
- und ist doch so unendlich fern. Zwar auch hier muß ein
Zaubertrick beleidigter Gottheit im Spiele sein. Aber wir fragen
nicht danach, denn wie immer er zugehe, den Tantalos trifft
die Strafe mit Recht, hat er doch einen heiteren, lieblichen
Knaben geopfert, zerstückt, den Göttern zum Fräße an-
geboten; abscheuliche pädagogisdie Untat, so häufig geübt.
Des Tantalos Kolleginnen, die Danaiden, so anmutig diese
fünfzig jungen Damen auch sein mögen, ihr Schicksal ist
uninteressant, sie leiden unter keinen geheimen Tücken,
sondern unter eigener Dummheit. Wer könnte Sympathie
haben für den Versuch, ein Faß ohne Boden mit Wasser zu
füllen? Das Mittel ist von vornherein unzulänglich. Sie
sollten es aufgeben, und nicht nach experimentell-didaktischen
Untersuchungen die Größe und Form der Fingerhüte, gleich¬
falls ohne Boden, erproben, mit denen sie schöpfen. Aber
Sisyphos, er verdient wahrhaftig unser Interesse, unser Be¬
dauern, unsere Sympathie. Zwar, daß er die olympischen
Spiele stiftete, und also das Gymnasion, in weitester Folge
das Gymnasium verschuldete, ist ein böser Fleck auf seinem
Namen (zum Glück eine recht wenig gekannte Tatsache),
doch seine Schuld: die maßlose Überheblichkeit ist nicht un¬
verzeihlich. Und wahrhaftig, sein Stein könnte doch einmal
auf der Höhe liegen bleiben, und es wäre nicht das erste¬
mal, daß lange bestrafte, verhöhnte Überhebung trium¬
phierte, und dann als Tat gepriesen würde, anstatt als
Untat geächtet zu sein. Vielleicht will er gar nicht unser
Bedauern, vielleicht freut’s ihn, daß er immer von neuem
118
beginnen kann, vielleicht ist sein Tun eine Art Sport, und
er'selbst gibt den Anstoß zum Bergab-Rollen. Wenn es so
ist, wollen wir ihn den Göttern nicht verraten. Und fragen
demnadi nach der Maschinerie, derer das boshafte Geschick
auf Geheiß beleidigter Götter sich Ijedient. \\ ie geht
das zu, daß Pestalozzi der Vater der Volksschule wurde?
Welche Circe hat diesen grundgütigen Feuerkopf in einen
Schulmeister verwandelt? Wer hat Humboldts reines Kind
gegen den Wechselbalg Gymnasium vertauscht? Wer hat
Fichtes aufredite Männer in teutsche Nationalesel verzaubert?
Sokrates hat man unschädlidi gemacht, indem man ihn
tötete; nicht nobel, aber nidit verwunderlich. Die Sokrates
der letzten Jahrhunderte läßt man leben, man lobt sie, man
verwirklidit sie, indem man sokratische Methode heißt, was
sie bekämpften. Idi sollte meinen, das wäre pädagogische
Art mit llabys umzugehen, denen man Puppen gibt mit
wirklichen Kindernamen, wenn sie wirkliche Kinder zu haben
wünschen. Es ist die Art mit Pädagogen umzugehen. Sie
lassen sidis gefallen. Sie wollen nichts anderes. Denn es tut
weniger weh. Die Ziele und die Mittel der Erziehung sind
das Spielzeug, das Lieblingsspielzeug der Pädagogen, warum
sollen die Erwachsenen ihnen verwehren, nadi Herzenslust
daran sich zu vergnügen? Verhindert muß nur werden, daß
sie Schaden anriditen.
Aber nicht dies ist die Frage, wie es der herrschenden
Gruppe gelingt, schädliche Bestrebungen zu verhindern,
sondern wie es gemacht wird und wie es möglidi ist, daß
zugleich die Bekämpften, die Besiegten sich selbst für die
Sieger halten können. Wir fragen statt nach den Mitteln
der Erziehung zunächst nach ihren Wegen; so viel idi sehe,
darf ich für diese Fragestellung eine Art Priorität an¬
sprechen. Denn die pädagogische Literatur, die ich so im
Laufe von 15 Jahren gelesen und geblättert habe - sie
119
*
kümmert sich nicht um die Dynamik der erzieherischen
Prozesse in der Gesellschaft, um den Weg des erzieherischen
Fortschritts, der Mutationen auf dem Gebiet der Erziehung.
Und doch ist dies offenbar die Vorfrage für jeden, der
Änderungen der Erziehung wünscht, der sich gesellsdiaft-
lidie Änderungen durdi solche der Erziehung erhofft.
Das meiste von dem, was ich im Rahmen dieses Buches
als Antwort zu sagen wüßte, ist eigentlich im voranstehenden
verstreut bereits enthalten oder aus ihm leidit abzuleiten.
Dies so gut wie nach schlagen ist unbequem genug, so sei
cs ohne jede weitere Entsdiuldigung wiederholt. Es sind
offenbar zwei Kräftegruppen, die am Zustandekommen einer
Erziehungseinrichtung und der Erziehung überhaupt Zu¬
sammenwirken : die psychologischen und die sozialen. Wir
sahen die Erziehung als Naturtatsache, in ihrer weiblichen
und ihrer männlidien Form aus der biopsydiisdien Urreak-
tion der Mutter und der Hordenmänndien auf die Tatsache
der ontogenetischen Entwicklung entstehen. Wir sahen wie das
psychologische Novum Schuldgefühl, das zur völligen Um¬
wandlung der Urgesellschaft und der Urwirtschaft führte,
auch diese pädagogischen Urreaktionen, gleidi allen sozial-
psychisdien Äußerungen umgestaltete, ohne daß in den primi¬
tiven Gesell schatten entscheidbar wäre, was von ihren Ma߬
nahmen ursprünglich psychisch und was sekundär sozial *
beeinflußt wäre. Wir sehen Veränderungen eintreten in der
Entwicklung selbst: die Kindheitszeit streckte sich und kompli¬
zierte sich durch die Einfügung der Latenzperiode zuerst, durch
die Verlängerung der Pubertät zuletzt. Indessen geht die
Wirtschaft mit ihrem überbau: Gesellschaft, Politik und Kultur,
ihren brutalen Eigenweg und die Menschheit findet sich als
ihren Gefangenen in der Barbarei einer hochzivilisierten
kapitalistischen Epoche, unsicher, wo die Ausgänge ins Freie,
sidier aber, daß sie diesen langen Opfer- und Marterweg
120
gänzlich ohne Gewinn und Sinn getrieben wurde. Was gesell¬
schaftlich geschieht, gesdiieht als Konsequenz der Wirtschafts¬
weise, der Maditverhältnisse und der Klassenkämpfe. So
sehr und ganz, daß eine Kulturgesdiidite möglidi ist, die
bis in die feinsten und intimsten Details das Kulturgesdiehcn
verständlich macht allein aus den ökonoinisdien I aktoren und
Wirkungen. Es ist, als wäre gar kein Raum für Wirkungen
der psychischen Reaktion in der Gestaltung der Erziehung.
Sie ist, so sdieint es, restlos ökonomisch bestimmt. Ob der
heute geborene Knabe 64 Prozent oder 9 Prozent Wahr¬
scheinlichkeit hat, diese Erde, kaum gegrüßt, gemieden, als
Säugling wieder zu verlassen, bestimmt seine Geburts¬
situation: ob er in „Wedding-Berlin, der Proletarierhölle”,
oder im Tiergartenviertel geboren wurde. Die gleidie 1 at-
sadie wird darüber entscheiden, ob er jene kindlidien
Konilikte durddeben wird, die dem einzigen, vereinzelten,
zweiten, dritten Kind, oder jene, die dem Mitglied einer
adit- oder zwölfköpfigen Familie besdiieden sind. Und wir
wissen, daß die Wirkungen dieser Konflikte bis in die
Feinheiten der Charakterbildung gestaltend bestimmen. Daß
es zwisdien Mutter und Vater, sdiwankend in seiner Liebe
und seinem Haß, durch die erbangclegte Bahn seiner
psyduschen Entwicklung und deren Lenkung, Eindämmung,
Öffnung durdx die in seiner Umgebung gegebene Situation
schuldig des Inzestwunsdies und des Vatermordgedankens
wird, und in der Angstkatastrophe dieser unschuldigen
Schuld, die seelische Instanz des unbewußten Sdiuldgefühls
erwirbt, Mensch wird durdi das Uber-Ith, ist 1 olge der
Ökonom isdien Tatsache, daß in Familien ge wirtschaftet wird,
daß in ihnen gezeugt, daß das Kind ihr Besitz ist, daß es in
ihnen aufwächst. Und wie dies Aufwadisen gesdiieht, mit
wieviel Spiel, mit wieviel Arbeit, mit welcher Versagung
und mit welcher Befriedigung, vor welchen Vorbildern und
121
mit welchen Inhalten, was von all dem wäre nicht der Wirt¬
schaft und ihrer Folgen unmittelbare Folge? Und daß eines
Tages die Schule beginnt, und was sie an Inhalt, an Menschen,
an Moral bringt — ist doch nicht weniger Folge einer be¬
stimmten industriellen Situation mit ihren bestimmten
materialen Forderungen, einer bestimmten Situation im
Machtkampf zwischen Sozialismus und Kapitalbürgertum,
mit ihren bestimmten Tendenzen; ganz ebenso wie die
große Entscheidung im Leben des Kindes, ob es noch weitere
sieben Jahre Schule als Mittelstufe vor endlichen noch mal
vier bis sechs zu erwarten hat, oder die Fabrik. Und ob
das Kind dies Buch oder jenes lesen darf, hängt doch nicht
davon ab, ob es gut ist oder schlecht, sondern ob es
10 Pfennig hat für Bücher oder 150 Mark. Und ob dies als
Kinderbuch kaufbar ist oder jenes, es wird nidit von seiner
Güte als soldier bestimmt, sondern davon, ob einer da ist,
der Druckkosten zahlt. Und wer kann solche Summen zahlen,
wer will es, der es könnte, wenn er nicht hofft, sie rück¬
erstattet zu bekommen mitsamt Zins und Profit. Und so
weiter.
Ja, es ist kein Ende dieser pompösen Banalitäten: Die
Erziehung braucht Geld; und das Geld hat das Bürgertum.
Es denkt nicht daran, es unrentabel zu investieren; am
wenigsten wird es sich geneigt finden, in dieser oder jener
Weise den Sozialismus zu stärken. Das Kapital und sein
Bürgertum hat kein Interesse an der Steigerung der Kultur.
Was es so nennt, sind ausschließlich die Befriedigungen
seiner eigenen kulturellen Bedürfnisse, im besten Fall, und
die Sicherung seiner materiellen Bedürfnisbefriedigung durch
ideologisches Getriebe. Gewiß der Eine und der Andere,
Einzelne, mag sich bereit finden, Geld und Geldes wert für
Kultur, sogar im wahren Sinn das Wortes, also unrentabel
zu verwenden. Aber diesem Tun ist eine enge Grenze ge-
122
setzt, nicht allein durch die verhältnismäßig enge Grenze
auch der größten Vermögen, sondern dadurch, daß dieser
Spender ein Opfer der Kapitalgesetze wird; er verliert an
die anderen, vernünftigeren, kapitalistischeren Mitbürger
schneller und mehr als er der Kultur zur Verfügung stellt.
Dies jenem — vielleidit noch vorhandenen — Erziehungsprojek¬
tanten ins Stammbuch, der auf den edlen reidien Mann warten
wollte und vergäße, daß wir nidit 1800, sondern 1924 leben.
Freilidi, es wäre eine feine Geschichte, dem Kapital
sein Kapital abzulisten, mit ihm die Proletarierkinder
sozialistisch erziehen und dann mit dieser Jugend die sozia-
listisdie Gesellschaft bauen. Vortreffliche Münchhauseniade;
doch ist diese Sumpferrettung nur für Zopfritter erwägbar.
Wir Modernen meinen, es wäre fast einfadier, statt ab¬
zulisten zu enteignen, und dann braucht es nicht der Geduld,
eine heranwadisende Generation lang den Nutzen auf¬
zuschieben.
Meine allgemeinste Formel der Erziehung: Reaktion der
Gesellsdiaft auf die Entwiiklungstatsache begreift all diese
Sachverhalte völlig in sich. Die ökonomisch soziale Struktur
der Gesellschaft hat ihren eindeutig bestimmten Rahmen für
diese Reaktion in sich. Die Organisation der Erziehung ist
aufs genaueste bestimmt. An ihr ist auf keinem anderen
Weg auch nur das mindeste zu ändern, als ausschließlidi
durch eine voraufgegangene Änderung dieser Struktur.
Diese mag unsdieinbar und jene auffallend sein, aber ge¬
schehen muß sie sein. Die Erziehung ist konservativ. Ihre
Organisation ist es insbesondere. Niemals ist sie die V or-
bereitung für eine Strukturänderung der Gesellsdiaft gewesen.
Immer - ganz ausnahmslos - war sie erst die Folge der
vollzogenen.
Das hieße: es gibt keinen Fortschritt der Erziehung? Nein,
es gibt keinen. Nicht so wie es die bange Stimme, die hier
123
fragte, meint. Und was ist z. B. mit dem Aufhören des Analpha¬
betismus? Mit der Tatsadie, daß gS Prozent der Mensthen
- in kultivierten, in fortgeschrittenen Ländern eben - lesen
und schreiben können, was sie nur der Schulpflicht ver¬
danken, das soll kein Fortschritt sein? Ich kann tatsächlich
nicht finden, daß die allgemeinste Kenntnis des Lesens und
Schreibens verdiente, als Fortschritt gewertet zu werden. Die
Schrift ist ein Verkehrsmittel, das wie die Eisenbahn oder
das Radio den Verkehr zwischen räumlich getrennten Men¬
schen vermittelt; sie hat Vorzüge vor diesen, weil sie unser
Vehikel für den Verkehr mit den Toten und noch Unge¬
borenen ist. Wird die Schrift von allen Menschen gekannt,
so entspricht das etwa der Tatsache, daß nahezu alle Men¬
schen die Eisenbahn zu benützen verstehen, bald das gleiche
für das Flugzeug gelten wird. Aber daß einer mit der Eisen¬
bahn fahren kann, ist eine kulturneutrale Angelegenheit. Es
fragt sich dodi erst, ob er den Zug nach Rom nimmt, um
der Polizei in Wien zu entgehen, ob er dort jobbem will,
ob er vorschriftsgemäß die Sixtina bewundern, ob er die
Weinpreise kennen lernen oder was er sonst für Gebrauch
von der schönen Erfindung der Eisenbahnreise nach Rom
machen will und kann. Ich kann midi nicht davon über¬
zeugen, daß von der Schrift und der Druckschrift allgemein
oder nur allgemeiner ein würdiger Gebrauch gemacht würde,
seit sie durch die Schulpflicht, eigentlich durch die Erfindung
der Rotationsdruckpresse, allgemein bekannt wurde. Man
darf auch nicht etwa einwenden wollen, Eisenbahnfähren
müsse man nidit lernen, das könne man „von selbst”, hin¬
gegen würde eben durch das Lesenlemen schlechthin jede
Kulturmüglichkeit erst erschlossen. Denn auch das Lesen¬
lernen ist beinahe überflüssig. Ein halbwegs vollsinniges
Kind bedarf dazu keines siebenjährigen Schulzwanges, ja,
keines einjährigen Schulbesuches. Früher einmal, da scheint
124
es ja eine rechte Kunst gewesen zu sein, aber heute, ge¬
wettet, ist außerhalb der Sdiuldidaktik die ganze Zauberei
in ein paar Wochen erledigt, und mit ihr dauert’s ein paar
Monate länger. Aber das Ganze ist keine Kulturfrage. Bei
den alten Juden z. B., da war’s eine Kulturangelegenheit; denn
für sie war Lesen der Verkehr mit ihrem Gott, ihrer höchsten
Sittlichkeits- und Kulturinstanz; sie lernten Lesen an der
Bibel als ihrer Fibel und hatten — wenn sie nur Männer
waren - eine einzige Verwendung für ihre Fertigkeit: den
Talmud, der immerhin ihr ganzes Kulturgut umfaßte, es
mag uns wenig oder viel ersdteinen. Andere Bücher gab es
nicht daneben. Aber bei uns ist Lesen eine Verkehrsange¬
legenheit, vielleicht im Prinzip durch Radio mit Diktaphon
bereits überw unden, veraltet, auf Spezialzwecke eingeschränkt.
Man kann, so scheint mir, rcdit versdiiedener Meinung über
die Wertung des Lesens als Fortschritt sein. Ich finde An¬
alphabeten nicht schlimm, wenn sie nur im übrigen „gebildet”
sind. Aber eigentlich steht dies nicht zur Diskussion. Viel¬
mehr ist es riditig, daß die Sdiulpllidit in allen Ländern
besteht und in allen als ihr Resultat die allgemeine Verbreitung
gewisser elementarer Kenntnisse — ausschließlich Verkehrs¬
mittel, Produktionshilfen oder Tendenzinhalte — vorhanden
ist, die zwar nicht an sich vorgeschritten sind, in denen aber
die kapitalistische Entwicklung und der Klassenkampf vor¬
geschritten sind. Beide Machtgruppen, jede von einer anderen
Tendenz her, aus anderen historisdien Gegebenheiten,
haben die Sdml pflicht durdigesetzt und erhalten, nachdem
bestimmte gesellsdiaftliche Fortschritte der Entwicklung ein-
getreten waren, z. B. die Revolution von 1848, mit einem
Wort, die Demokratie. Der Sozialismus hat allen Grund,
sidi dieses Erwerbs zu erfreuen; denn er weiß seinen Ge¬
brauch von Schrift und Druck zu machen. Aber die Dinge
stehen nicht so, daß der Fortschritt auf dem Gebiet des
m
Schulwesens den Sozialismus ermöglicht oder vorbereitet hat,
sondern auf einem gewissen Punkt von Machtentfaltung an¬
gelangt, also nach einer Veränderung der Struktur der Ge-
sellsdiaft, wurde eine Änderung der Erziehungsorganisation
vorgenommen, natürlich eine solche, die die weitere Ent¬
wicklung der Macht des Sozialismus zu sichern und zu
fördern geeignet war. Hier wird die konservative Funktion
der Erziehung überaus deutlich. Sie erhält den gewonnenen
Strukturzustand, die neue Machtverteilung, und vermehrt
sie dadurch zuweilen. Es ist eine Potenzierung sozusagen
der Konservation. In diesem Fall etwa vom Standpunkt des
Sozialismus als Fortschritt zu werten (nichtsdestoweniger als
Konservierung zu beschreiben). Wohl, es gibt Fortschritte
des Sozialismus, das leugne nicht i c h, sie haben konforme
Veränderungen der Erziehung zur Folge, die der Sozialismus
als Fortschritte werten darf. Die Erziehung aber ist immer
rückständig. Ihr Fortsdiritt besteht darin, daß ihre Rück¬
ständigkeit ein wenig überwunden wird.
Hiermit wären wir unvermutet an eine wirkliche, unüber-
steigliche Grenze der Erziehung gelangt. Jede Erziehung ist
in Bezug auf die erziehende Gesellschaft konservativ organi¬
siert; in Bezug auf die Machttendenzen der erziehenden
Gruppe inten sivierend (ausbreitend, vermehrend). Die Variable
der Erziehung, wie idi oben sagte, erweist sich als bloß
relativ. Gewiß sind es gerade die Organisationsformen der
Erziehung, die im Laufe der Geschichte die bemerklichste
und sicherste Veränderung durchgemacht haben. Sie wandeln
sich sehr schnell; man bedenke nur, wie in kaum fünfzig
Jahren die öffentliche Jugendpflege mit ihren ausgebreiteten
markanten Institutionen wuchs, wie das Jugendrecht in
wenigen Jahrzehnten, die Testprüfungen in wenigen Jahren
entstanden und sich entwickelten; man vergleiche die per¬
sische Erziehung, wie sie Xenophon berichtet, mit dem
(2Ö
Klosterschul-, Universitäts-, Lehrlings wesen des vierzehnten
Jahrhunderts von Paris bis Salamanka und Padua, mit dem
Jugendleben im Frankrekh der großen Revolution, und man
wird - wenn auch nicht durchaus Fortschritte, so doch gewiß
umwälzende Veränderungen finden. Sie sind aber nidit die
Verwirklichung irgendwelcher Ideen, Ziele, Projekte, Päda¬
gogiken irgendwelcher berühmter oder großer Pädagogen
und Pädagogiker, und sie sind nicht die Ursachen der übrigen
kulturellen, sozialen, geistigen und vielleidit audi psydiisdien
Wandlungen, die in den abgclaufenen Jahrhunderten statt¬
fanden, sondern deren unmittelbare Folgen, anonym und
ohne Zielstrebigkeit, wie nur die unmittelbaren Folgen eines
Ereignisses eintreten. Die feudal militaristische Gesell sdiafts-
struktur hat ihre Erziehungsorganisation, ob sie nun bei
Mexikanern, Ägyptern, Japanern, Persern oder Germanen
wirksam sei, der moderne Kapitalismus hat die seine, in
welchem Land immer er wirke, für jede seiner Entwiddungs-
etappen, für unsere heutige, unsere hiesige. Sie gefällt dir
nicht? Mir auch nidit, Freund. Du willst sie ändern; etwas,
ein geringes Detail an ihr ändern? Ändere die Gesellsdiafts-
struktur, das korrelate Detail an ihr. Willst du lichtes
Erziehungsorganisation einführen, schäfte seinen geschlossenen
Handelsstaat, oder beliebt dir ein Stück von Platons päda¬
gogischer Utopie, verwirkliche ein Stück, das richtige, versteht
sich, seines Staates. Es geht nidit anders. Jeder andere
Versuch ist unzulängliche Sdi wärmerei.
Die Einsicht in diese, die soziale, Grenze der Erziehung
verurteilt jegliche Bemühung, vor vollzogener Änderung der
gesellschaftlichen Struktur etwas an ihrer Erziehungs-
organisation zu verändern, etwas irgend Beträditlidies. Sie
lenkt die Kraft, die solchen Bemühungen gewidmet wird, auf
das Zentrum, die gesellsdiattliche Evolution oder Revolution,
je nach der Bescheidenheit solcher Änderungslust, ldi werde
midi zu einer namhaften Einschränkung in einem bald fol¬
genden Zusammenhang entschließen. Diese entschuldigt aber
nicht eine verbreitete Reformtheorie: Ein Iverdün, ein Wickers¬
dorf wird tausende schaffen, die Musterinstitution, der bür¬
gerlichen Kindheit und Jugend errichtet, wird proletarische
Nachbilder erzeugen. So wird, langsam vielleicht, aber eins
zum anderen gefügt, das ganze Erziehungswesen die neue
dort verwirklichte Form erhalten. Diese Additionstheorie ist
in sich falsch. An einem Ort, unter der Gunst besonderer
Umstände und Mittel, ist alles möglich, für eine gewisse Zeit
lang. Eine Schule, eine Lehrwerkstätte, eine kommunistische
Kindergruppe ist ebensogut möglidi wie ein närrischer
Lehrer, ein sadistischer Richter, oder ein vernünftiger Lehrer,
ein milder Richter. Zu ihrem Bestand und Auftreten bedarf es
keiner Strukturänderung. Aber ihre Vervielfältigung, das eben
ist das prinzipiell Neue, das von nirgendsher anders ermöglicht
wird, als von der vollzogenen gesellschaftlichen Änderung.
Diese Auffassung ist weit entfernt davon, neuartig zu sein.
Sic ergibt sich stringend aus Marxens Lehre, die Folgerungen
sind in der sozialistischen Literatur gezogen worden. Man
trifft sie aber leider nicht in dem pädagogischen Schrifttum,
nicht einmal in der — übrigens sehr ärmlichen — sozialistischen
pädagogischen Literatur genügend eindringlich und aus¬
greifend überlegt. Wenig verwunderlich, sind doch die Kon¬
sequenzen dieser Grenzsetzung eine sehr empfindliche, eine
sehr weitgehende Einschränkung der Allmacht der Erziehung
und damit der Macht jedes einzelnen Erziehers und der Be¬
deutung des Pädagogikers und seiner Bemühungen, seiner
Schriften. Was ein braver Bürger Idealist ist, neidet nie¬
mandem die persönliche Macht, welche Geld verleiht, und
hat es gelernt, die Ausübung politischer Macht den Volks¬
beauftragten aller Kategorien, verachtend das politisdie
Lied, das häßlidie, zu gönnen, aber die geistige Macht, die
128
er seinen Ideen, Worten und Schriften zu mißt, will er nidit
eingesdiränkt wissen. Und, cs soll nidit geleugnet werden,
daß die Idee und ihre Propaganda in Wort und Schrift zu
einem sehr entsdieidenden Machtfaktor werden kann und
oft im Verlauf der Klassenkämpfe zum letzten entsdieidenden
Siegesfaktor — hüben und drüben — geworden ist. Nur
kommt der Idee diese Madit - ohnehin weit entfernt, All¬
macht zu sein — nicht als solcher zu, sie so wenig wie ihr
Wort ist ein Zauber, der Regen, Gesundheit, Tod, Revo¬
lution, sittliche Vollkommenheit schafft. Sie erhält sic durdi
ihre Träger, durdi die Männer, die von ihr begeistert,
erweckt, ermutigt, gewiesen sind. Es hat wohl einen Sinn,
die Ausgebeuteten aller Länder unter den Ideen des kommu¬
nistischen Manifcsts zu einen, denn dies geeinte Proletariat
kann sehr reale Veränderungen der Macht Verteilung auf
Erden durch sehr prosaische und ungeistige Mittel herbei¬
führen. Aber was soll die Propaganda für Sittlichkeit bei
Kindern? Da ist ein kapitaler Unterschied, der die Päda¬
gogen trifft. Zu furditsam und fein, den Motor gesellschaft¬
licher Umwandlung zu erkennen und sidi zur Bedienung an
dies lärmende und gefährliche Ungeheuer zu stellen, haben
sie es mit der Kultur. Und hier noch einmal zu furditsam,
wenden sie sidi an die Kinder, die weder ihnen noch ihren
Allmaditgelüsten gefährlich sind, denn dies „Jäten und Säen
in Kinderseelcn” ist eine idyllische Art Agrarbetätigung.
Gott setzt das Werk auf seine Weise fort und läßt es regnen
und hageln, und bis es ans Ernten kommt, ist der geruhige
Säer unter den Toten oder Blinden, und seine Hoffnungen
sind ewig, denn er sah die Blüte nicht im Drang der neuen
Jat- und Säegesdiätte; sein Stolz bleibt ewig ungcbrodien,
da er ihn vorschußweise von seinen Hoffnungen pflückt. Nämlich
all dies unter der Voraussetzung, daß jene bösen Sätze nicht
stimmen. Und darum erscheinen sie den Betroffenen falsch.
Bernfeld, Sisyphos 9
129
Da ist zum Beispiel ein prächtiger Satz des Pestalutz: „Es
ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Welt¬
teil keine Rettung möglidi, als durch die Erziehung, als
durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschen¬
bildung. So ist für die Erhebung des Weltteils und audi für
deine Wiederherstellung, teures, gesunkenes Vaterland, kein
Rettungsmittel wahrhaft wirksam, das nicht von einer psycho¬
logisch tief erforschten Ausbildung der sittlichen, geistigen
und Kunstanlagen unseres Geschlechts ausgeht und hin¬
wieder zu ihr hinführt.”
Dutzende von solchen, besseren nodi, sind der Ruhm des
Merks der großen Pädagogen. Aber was anderes als feige
Selb s tberuhig ung sind sie angesichts der sozialen Grenzen der
Erziehung. Kein Mittel, ganz wörtlich und völlig ausschließlich,
kem Mittel gibt es, kein vorgescblagenes, kein erdenkbares,
Volkskultur zu schaffen, solange die Jugend des Proletariats,
des Volkes eben, mit zwölf, mit vierzehn Jahren der Straße,
der fabrik, der Zwangsarbeit ausgeliefert wird. Sinnlos'
irgend etwas anderes in diesem Zusammenhang zu fordern:
als Freiheit jedes Menschen von Zwangsarbeit bis zu seinem
achtzehnten Jahre. Andere Forderungen, jede andere, noch
so edlen Motiven entsprungen, noch so unvergänglich for¬
muliert, stützt die Tendenz der kapitalistischen Machthaber
in der Erziehung. Konserviert den heutigen Kulturzustand,
verhindert also jede Ausbreitung der Kulturgüter auf das
„Volk”. Und diese wirklidie Forderung, ist sie Sache der
Erziehung oder nicht vielmehr des Sozialismus, Utopie,
solange er nicht die Macht gewonnen hat, sie zu ver¬
wirklichen ?
Dieser Punkt ist wichtig genug, daß wir noch einen Augen¬
blick auf ihm verweilen, er ist ein prächtiger Aussichtspunkt.
Die V erbreitung der Kultur ist eine höchst persönliche
Angelegenheit, sie ist Angelegenheit der Persönlidikeit. Wir
130
verstehen darunter, d&ß Geist, Fühlen, Wollen, Leben des
einzelnen Menschen durchdrungen sei von den höchsten
Werten und Gütern der Kultur der Nation, der Übernation
Menschheit. Wie jede einzelne seelische 1 ähigkeit, jeder
Strukturgrad des Ich seinen gegebenen Entwiddungsmoment
hat, so auch die Differenzierungsgrade, Kultivierungsniveaus
der Persönlichkeit. Deren Entwicklungsmoment ist die
Pubertät, ln ihr erwachen, aus Gründen, die in der
psychischen Situation dieses komplizierten Alters liegen,
zum erstenmal jene Gefühle und Gedanken, um die sich als
Kern der kulturelle Gehalt und Wert der Persönlidikeit
gruppieren wird. Soll diese den höchsten erreichbaren Stan¬
dard des, immer noch durchschnittlichcn, Menschen erreichen,
so muß die Pubertät in einer ganz bestimmten Weise kompli¬
ziert sein; sie muß vor allem über die kurze Spanne der
physiologischen Pubertät hinaus gestreckt verlaufen, sie muß
bis ins 18., Ja 20. Lebensjahr anhalten. Ein Resultat, das,
im normalen Fall, nur eintritt, wenn die seelisdie Entwicklung
der Jugendlidien nicht gehemmt, nidit verarmt, nidit zwangs¬
läufig frühgereift wird, durch dessen frühe wirtsdiaftliehe
Selbständigkeit und den Zwang zur Verdienst-, Zwangsarbeit
im industriellen Betrieb.
Diese Freiheit ist demnadi die unerläßliche Voraussetzung
dafür, daß die Zahl der kulturgemäß entwickelten Persön¬
lichkeiten jene Größe erreidie, die menschlichem Hodist-
maß entspricht, die Durchbildung der Völker ihren zur
gegebenen Zeit innerlidi erreidibaren äußersten Umfang er¬
halte; das Mögliche für die Verbreitung der Kultur getan
werde. Sie ist sichcrlidi nicht die zureichende Bedingung,
dieses Resultat zu garantieren. Die so frei gewordene Jugend
muß ihr Leben in gewisser Weise organisieren, mit bestimmten
Inhalten erfüllen, von geeigneten Mensdien geführt sein.
Aber die Voraussetzung ist sie nun eben; nidit mehr, nicht
. 9*
131
weniger, alles demnadi für uns heute. Man tut gut, die
soziale Grenze übertrieben scharf zu zeichnen. Man ist vor
jeder Gefahr gesichert, sie zu überschätzen. Sie bestimmt die
Wege der Erziehung. Der von ihr gesetzte Rahmen für jede
Erziehung: die Organisation der Erziehung diktiert das Er¬
ziehungsresultat, alles was in diesem Rahmen sich abspielt,
spielt sich bloß ab, ist verhältnismäßig unwesentlich, ändert
im besten Fall nichts, hilft vielmehr im gewöhnlichen Fall -
dem schlechtesten - geradezu zum Endresultat. Und dieses
ist - wie es immer war — der Erwachsene dieser Gesellschaft,
ihre Herrscher, ihre Bürger, ihre Proleten.
Die Pädagogen, die ausgehend vom Mißfallen an diesem
endlichen Gcsamtresultat der Erziehung, weder die Erziehung
als ihr Denk- oder Arbeitsbereich verlassen wollen — es hält
sie ihr Temperament, ihre Liebe zu Kindheit und Jugend,
ihre Bildung, ihre Berufslage oder irgend ein Einfluß aus
unkontrollierbarcn, tieferen Schichten ihrer Seele - nodi das
schmeichlerische Gefühl missen wollen, im Zentrum der Welt¬
entwicklung mitdenkend, mitarbeitend zu stehen - den Ge¬
danken ertragen sie nicht, an der Peripherie des Geschehens
bescheiden ihr Teil zu tun - deren Intellekt sie aber zwingt,
die soziale Grenze der Erziehung dem Verstand nach einzu¬
sehen und anzuerkennen, diese Pädagogen, ob sie nun
Kinder erziehen oder Lehrer oder über diese nützlichen Be¬
schäftigungen bloß schreiben, finden eine vortreffliche Deckung
auf ihrer Rückzugslinie in der unbestreitbaren Tatsache, daß
trotz aller unheimlich leisen und sicheren Wirkungen der
Erziehungseinrichtungen doch aller Erziehungsprozeß sich
im Einzelindividuum vollzieht, und daß diese Individuen, in
dem gleichen Wirkungsrahmen erwachsend, beträchtlich ver¬
schieden und auch verschieden wert und kultiviert sind.
ln diesem letzten Kapitel, das programmgemäß positiv und
versöhnlich, sozusagen schwarz mit rosa Punkten, gedacht
132
wurde, muß ich gute und brave Erzieherseelen kränken und
desillusionieren. Idi tue es ungern, so sehr, daß idi’s völlig
unterließe, wüßte idi nidit, sie werden es verwinden, indem
sie midi als Defaitisten der Kultur nidit ernst nehmen, sidi
nicht kränken werden. Die Theorie dieser nun leider zu
Kränkenden lautet: Es kommt auf die sittlidie Gestaltung
der Einzelpersönlidikcit an, daher bilde ich den Einzelnen;
tuen alle Erzieher desgleidien, so wird sdilicölidi die Ge¬
samtheit aus hodistehenden, sittlichen Persönlichkeiten
bestehen, und das ist das wünsdienswerte Endziel der Ge¬
sellschaft. Idi kann midi für diese halb resignierende Ein¬
stellung nicht begeistern. Und meine, daß gegen sie das
gleiche einzuwenden ist, was für die Additionstheorie der
Instituetik galt. Es will mir wenig plausibel erscheinen, daß
der Wille der Erzieher die Sdiranken durchbredien wird,
welche die sozialen Grenzen darstellen. Es gibt heute wie
jemals eine Anzahl einzelner Mcnsdien, die uns in ihrer
psychischen Struktur, in ihrer Haltung zu Welt und Menschen,
in der Aufstellung und Erfüllung ihrer Pflichten, in der um¬
fassenden Weite und der durchdringenden Tiefe ihres Ver¬
standes als wünsdienswerter Durch schnitt der Tierart Mensch
ersdieinen. Wir stehen ihnen nidit bewundernd wie wunder¬
lichen und unerreichbaren Gipfelleistungen gegenüber, son¬
dern es geht uns mit ihnen wie manchmal mit einem Problem,
dessen Lösung wir auf verschlungenen Wegen mit bizarren
Konstruktionen suchten, und dessen Lösung uns dann in so
einfacher und selbstverständlidier Gestalt geboten wird, daß
wir verwundert fragen, wie jemals ein anderer Gedanke nur
die entfernteste Neigung linden konnte: wir haben das Ge¬
fühl, so sind Menschen, und staunen, daß es wirklidi wcldie
gibt, die diese Norm nicht verwirklidien. Idi habe den Ein¬
druck, daß solche rechte, brauchbare, wohlgefügtc, sidi und
den anderen angenehme Mensdien nicht einmal so selten
»33
sind, als wir in griesgrämiger Laune, Über uns selbst ge¬
tigert, meinen. Beweisen diese nicht durdi ihre Existenz,
daß soldies Resultat in unseren sozialen Grenzen möglich
ist? Gewiß. Aber wir kennen die Bildungsgesetze nidit, unter
denen sie wadisen. Sie haben dasselbe äußere Leben gelebt
wie andere, sie haben dieselbe Familie, dieselbe Sdiule, die¬
selben öffentlichen und geheimen Wirkungen erfahren, nie
Jene anderen, die mehr oder weniger abweidiend von dieser
Norm sich gestaltet haben. Sie haben dieselbe psychische
Struktur wie die anderen, soweit unsere sehr primitiven
psydioanalytisdien Forschungsmethoden, die nur recht grobe
Strukturuntersdiiede erkennen lassen, Auskunft geben. Sie
sind ein Resultat, wir wissen nicht welcher speziellen Ein¬
flüsse; wir wissen nicht einmal welcher Kategorien von Ein¬
flüssen. Sie sind eine statistisdie Tatsache unserer Erziehung.
So erstaunlich oder selbstverständlich, wie daß jahraus, jahr¬
ein so ungefähr dieselbe Relativzahl der Selbstmörder, der
Einbruchsdiebe, der Irrsinnigen, der Ermordeten gezählt
wird. Gelegentlich freilich erfährt diese Ziffer eine beträcht¬
liche Veränderung, zuweilen kann dann eine Änderung der
sozialen Struktur als ihre Ursache gefunden werden, meistens
ist sie so rätselhaft, wie die übliche Ziffer auch war. Der
Bestand dieser erfreulichen Menschensorte ist die ange¬
nehme Seite der Soziaistatistik. Diese befaßt sich sonst
meistens mit den weniger sympathisdien Produkten, sie sind
audi leichter festzustellen, zu rubrizieren und auszuzählen.
Aber sie bietet wenig Hoffnung für den edlen, jungen Leser,
der sein Teil hinzu tun will, die Statistik auf den Kopf zu
stellen. Denn zugegeben auch, eine der freilich unbekannten
Bedingungen sei, das Kind müsse solch edlen Erzieher ge¬
funden haben - dann, junger Freund, sind Sie selbst ein
Statistikum. Sie haben sich vorgestern entschlossen, Ihr
resignierendes Weltverbesserungsgennit in den Dienst der
134
Kinderverbesserung zu stellen, damit ein edles Herz mehr
am Werk, ein paar angenehme Mensdien mehr in der
Zukunft seien — in dem Augenblick, als im fernen Dorfe \.
soldi ein braver junger Mann wie Sic durdi die Ernennung
zum Professor der Mensdienbildung verloren gegangen ist.
Und die Statistik stimmt wieder für eine Weile.
Das heißt, eine Möglichkeit gäbe es dodi, der Statistik ein
Sdmippdien zu schlagen. Vielleicht. Der Normmensch, von
dem wir sprechen, ist eigentlidi der normale. Wir haben ja
von ihm den Eindruck, daß seine Struktur von jedem Kind
erreidit werden könnte, das daran nicht verhindert wird.
Rätselhafterweise gibt es Verhinderungen, die wir nicht
durchschauen. Aber es gibt Verhinderungen, die wir sehen,
erkennen können. Denn es gibt Kinder, die in abnormalen,
unmensdilichen Situationen aufwadisen. Da sollen z. B. etliche
sein, die sidi in den ersten zehn Jahren ihres Lebens nidit
ein einziges Mal satt gegessen haben. Das ist ganz abnormal
für menschliche Struktur. All diese Kinder zu füttern, hieße
gewiß die Chance für das Nonnerfüllungsphänomen ver¬
größern, vielleicht änderte es auch ein wenig an der Statistik.
Oder, um nidit immer von den groben Trieben zu sprechen,
sei Pestalutzens Erstaunen wiedergegeben, mit dem er die
Erfahrungen seines ersten Erziehungsexperimentes esse
„Es ist eine Erfahrungssache, daß Kinder vom
ge sdil agendsten Mute, die, in ihrem Müßiggang und e c
entkräftet und bloß, ohne Gesundheit waren, bei ihnen nicht
gewöhnter, beständig anhaltender Arbeit dennoch sehr bald
zu einer frohen Heiterkeit ihres Gemüts und zu einem eins¬
maligen frappierenden gesunden Wudis gelangt, durch bloße
Veränderung ihrer Lage und Entfernung von den Ursadicn
und Reizen ihrer Leidenschaften. Es ist Erfahrungssache für
midi, daß vom tiefen unentwickelten Elend sie sich sehr
bald zur Empfindung der Menschheit, zum Zutrauen und zur
135
freundsdiaft emporheben, — Erfahrung, daß Menschlichkeit
gegen des niedersten Menschen Seele erhebend ist, daß aus
den Augen des elenden verlassenen Kindes gefühlvolles
Erstaunen hervorstrahlt, wenn nadt harten Jahren eine
sanfte ‘mensdiliche Hand cs zu lieben sich darbictet. — Er¬
fahrung ist es nur, daß ein solches im tiefen Elend emp¬
fundenes Gefühl von den wichtigsten Folgen zur Sittlichkeit
und Ausbildung der Kinder sein kann.”
Zu den Grundbedingungen des menschlichen Aufwachsens
gehört ein gewisses Maß von Liebesökonomie. Das Kind
bedarf eines gewissen Quantums Befriedigung seiner Liebes-
triebe, es muß sich geliebt fühlen und muß lieben dürfen.
\\ ir wissen, daß es auch der Versagung bedarf, fehlte sie,
ist das Resultat nicht selten die zügelloseste Kriminalität
(Destruktion). Wir wissen, daß Liebe des optimalen Grades
nidit ausreicht, das erwünschte Ergebnis zu garantieren. Aber
wir wissen, über jeden Zweifel frei, daß die Liebe die uner¬
läßliche Voraussetzung für. jede Annäherung an die Norm
ist. ln das liebeleere Leben jener unglücklichen Neuhöfer
Kinder tritt dieses Liebezentrum Pestalozzi und sie blühen
auf, ungeahnt, rührend dem XVIII., erschütternd und mahnend
dem XX. Jahrhundert. Edler, junger Mann, Sie haben recht,
gehen Sie dorthin wo Kinder sind, die an Liebe darben,
geben Sie ihnen, nehmen Sie die richtige (glauben Sie mir,
die versagende) Liebe und wirklich. Sie vermehren die
Chancen für die Entwicklung einer Menschheit. Aber
vergessen Sie nicht, falls es Sie drängt zu theoretisieren, daß
Sie notwendigerweise ein Einzelner sind, daß man Ihnen gewi߬
lich das Handwerk legen wird, so wie Sie sich vervielfachen
sollten, falls nicht vorher der kämpfende Sozialismus zu Ihrer
Deckung und Sicherung eine neue Machtposition erkämpft
halben sollte. Und dann seien Sie so lieb und blähen Sie
sidi nicht als Retter, Sie armer Statist, es steht Ihnen schlecht,
136
und den Kindern, die Sie lieben, könnte es beifallen, Ihnen
gleidmitun, und dann haben Sie Ihren eigenen Zweck zerstört.
Also es gibt keine seelisdien Kräfte, alles ist wirtschaftlich
bestimmt? Nicht doch, es gibt seelische Kräfte; und alles ist
von ihnen bestimmt, auch die Wirtschaft. Wir können die
Dinge auch so betrachten, und es hat sogar viel wissen¬
schaftlichen Sinn, so zu tun. Nur nützt das nichts für die
Erweiterung der engen Grenzen, die erzieherische in I un
gesetzt sind. Denn man kann zwar in der wissenschaftlidien
Betrachtung, ausgehend von der Hypothese etwa einer Art
psycho-sozialen Parallelismus, die eine Faktorenreihe zu¬
gunsten der anderen vernachlässigen, von ihr abstrahieren,
aber die Erziehung, die es mit der Realität zu tun hat, wird
sich ständig von dem unerkannten Zusammenhang der
beiden Reihen gestört sehen, die sozialen Fakta werden
brutal in die Ketten von Überlegungen eingreifen, die aus
den seelischen Fakten gefolgert wurden.
Und daher ist gewißlich riditig: die Wirkungen, die die Gesell¬
schaft als Ganzes durch ihre Erziehung auf die Heranwachsende
Generation als Ganze ausübt — von den Wegen dieser Wirkung
habe ich nun schon lange genug geschrieben - lassen sich
größtenteils auf Wirkungen zurückführen, die einzelne
Er wachsene auf einzelne Kinder ausüben. Die guten sowohl
wie die schlechten, woher immer wir den Maßstab zu dieser
Beurteilung nehmen. Hier liegt natürlich, wenn irgendwo,
eine Möglichkeit für die Erziehung. Nur leider sind die
Erwachsenen, die Subjekte der Erziehung, ihrerseits die
Resultate Jenes recht undurchsichtigen Ganzen, das wir
Erziehung nennen, daher im großen Ganzen ungeeignete
Subjekte einer Erziehung, die auf große revolutionäre Wand¬
lungen der Menschenseele aus ist. Es ist der Hexeming, in
den die Pädagogik gebannt ihre wunderlichen Tänze
zelebriert, indem sie die neuen Erzieher für die neuen
137
Menschen sucht. Und hier gibt es kein Rettungsmittel. Denn
Erziehung ist nicht allein, was die Erzieher ausüben (oder
auszuüben vermeinen). Erziehungssubjekte sind die Väter
und Mütter, die Tanten und Onkeln, die Krämer und
Chauffeure, Schutzleute, Schaffner und Postboten, Plakat¬
zeichner, Kinoregisseure, Journalisten, Redner . .., es ist die
ganze heutige Gesellschaft. Im Keller der Nationalbank,
gewiß, hegt das pure Gold in dicken Barren geschichtet -
so stelle ich mir wenigstens dieses helle Kapital der National¬
ökonomie vor - aber was wir zu sehen, zu handeln bekommen,
womit wir täglich leben, das sind die zerfetzten, schmutzigen
K'eingeld^cine, die ihren Wert, ihre Existenz von jenem
Goldschatz ableiten, aber sdimutzig und wertlos sind trotzdem ■
ge egentlich freilich ist ein glatter, strahlend schöner und
edler mit in der Masse, erstaunt, freundlich, erfreut betrachten
wir ihn ein wenig länger, halten ihn vielleicht ein paar Tage
aber dann hat auch er uns zu verlassen. Auch das Bild von'
diesem oder jenem unserer Erziehungssubjekte bleibt länger
m uns, vielleicht audi für immer; es wirkte tiefer vielleicht
als die anderen - wer will das wissen, wer weiß von sich
mein- als ihm die tendenziös lärmende Oberüäche seiner
Seele aufdringlich zeigt? - aber unter Tausenden un¬
bemerkten schmutzpapierenen. Von jeder Liebe bleibt in uns
ein dauernder Niederschlag, ein Stüde unseres Charakters,
unserer Persönlichkeit. Audi von den Lieben zu amtlichen
Erziehern. Aber vor ihnen waren die entscheidenderen
Lieben zu den Eltern, zu den Menschen unserer frühesten
Kinderumgebung, mit und nadi ihnen zu manchen anderen
Mensdien. Lnd die Liebe fragt nidit immer nadi Wert und
sittlicher Vollendung; ihr Niederschlag in uns ist nicht immer
der Wert der geliebten Person. Die Chancen stehen sdilimm
für unseren edlen jungen Mann, der gerade durch Erziehung
ic esentliche Welt Veränderungen vorne hm en will.
13S
Idi desillusioniere. So sagt man mir. Und idi bin gar nidit
bereit, das einzusehen, obgleich ich den Tatbestand glaube.
Idi verstehe ihn eigentlidi nicht. Denn idi kann nicht be¬
greifen, was diese großen Hoffnungen mit der Erzieher¬
tätigkeit zu tun haben. Will denn ein ordentlidier Schuster
mit seiner Arbeit mehr als Geld verdienen und, wenn er ein
Künstler ist, ordentliche Schuhe liefern? Ist er desillusioniert,
wenn idi ihm beweise, daß Gott auf Erden so wenig wie die
Sittlichkeit und die Kultur und der Sozialismus durch sein
Geschäft verwirklicht werden? Und der Arzt, braucht er mehr
als sein Einkommen und das Gefühl, daß er die Kranken
gesund gemacht hat? Was geht den Erzieher die Kultur und
die Menschheit an? Ist cs nidit genug, Pflegebedürftigen
Pflege zu geben, mit Kindern zu spielen, was sie bekanntlich
sehr freut, Kinder zu unterrichten, was ihnen schließ!idi
auch nützt, w T enn es sie audi minder freut, zu lieben und
geliebt zu werden - in der richtigen Weise, von der idi
bald nodi einiges zu erzählen habe — wozu noch mehr,
noch alles dazu: die Zukunft gleich mitgestalten und gar
nodi im Sinne der letzten Ideale einer geradezu aus-
sdiweifenden Endgültigkeitsorgie? Wozu dies Plus? Und die
Desillusionierung, wenn dies Ideal plus gestrichen wird?
Nun, das sind keine rhetorisdien Fragen. Sie sind be¬
antwortbar, und zwar in einer zweischichtigen Antwort. Unn
Gros ist dieses stürmische Plusbegehren billig abzukaufen
mit einer entsprechenden Einkommenserhöhung. Laßt sie
Kinder unterriditen und dadurdi vernünftig verdienen, und
sie werden ihre Tätigkeit sogleidi für eine in sidi genügende
und vernünftige halten und sie nidit mehr an den Sternen¬
himmel der Ideale knüpfen. Aber andere sind komplizierter
gebaut. Sie werden unbefriedigt bleiben. Und das liegt tief
im Wesen der Erziehung verankert. Die Erziehung als
Tätigkeit in der Paargruppe ist für den Erwadisenen
139
unbefriedigend. Er sucht Ersatz, Kompensation in jenen
Idealen.
Für diese Unbefriedigung des Erziehers ist manche Ursadie
aufzuzählen; im Verlauf meiner Darstellung habe ich eine
ziemliche Anzahl von Gründen erwähnt. Hintereinander
geschrieben, geben sie ein erbauliches Kapitel. Sie münden
aber alle in die tieferen Grund Ursachen, die sich wieder aus
der einen Tatsache verständlich ableiten, daß der Erzieher
- den ich hier meine und um dessen angebliche Des¬
illusionierung wir streiten — seinen Beruf aus Liebe zu den
Kindern gewählt hat. Und diese Liebe bleibt unbefriedigt.
Es ist ja auch wirklich eine paradoxe Liebe. Wie kommt der
Erwachsene dazu, Kinder — wohlgemerkt, fremde, nicht die
eigenen Kinder — zu lieben und nicht nur in der beiläufigen
Weise, die wir wohl verstehen, daß einer sich an einem frischen
Kindergesidit eine Stunde lang erfreut, sich erheitern läßt
durdi einen tollen Kinderstreidi, durdi eine kluge Frage,
gelegentlich mit Kindern spielt, selbst ein Kind geworden,
für ein paar dem strengen Leben gestohlene Minuten, sich
ein wenig kindliche Zärtlichkeit gefallen läßt, sie freundlich
spendet, - nicht so, sondern Tag und Nacht, als haupt¬
sächlichste eigentliche Beschäftigung, den Verkehr mit Kindern
zu suchen, mit ihnen, für sie zu leben, zu sorgen und denken,
den Umgang mit Kindern nidit entbehren zu können und da¬
durch zu beweisen, daß in seinem Unbewußten eine starke
triebhafte Liebe zu Kindern lebt, auch wenn er bewußt davon
nicht viel, vor allem nichts Drängendes, nichts von Sehnsucht und
Genuß erlebt. Der Erwachsene sonst liebt keineswegs Kinder;
von den eigenen, die er lieben muß, weil er sie nidit hassen
darf, sei abgesehen. Sie stören, machen Lärm und Schmutz,
schwatzen Unsinn, belästigen in jeder erdenklichen Weise.
Man liebt sie nicht, hat mit ihnen womöglich nichts zu tun;
läßt sich’s aber nicht vermeiden, so wird bald Ärger, Feind-
140
Seligkeit, Abneigung in dieser oder jener Weise sidi äußern.
Der gute Onkel, der sdirulligerwcise Kinder liebt, wird
belächelt und entschuldig*; der Gute weiß eben nidit, wie
sie wirklich sind, wie sie sind in ihrer sie nicht liebenden
Umgebung. Der Erzieher ist von diesem Verhalten beträditlidi
unterschieden, er ist der gute Onkel, der die Onkelhaftigkeit
zum Beruf gemacht hat. Er liebt Kinder eben, hat diesen t
Beruf gewählt, weil er ihm den fortgesetzten Kontakt mit
den Objekten seiner Liebe gestattet.
Liebe ist ein schönes Wort. Und verwunderlich ist nur,
daß die Sprache die Freudsdien Entdeckungen vorweg¬
genommen hat, indem sie mit dem gleichen Wort eine
Neigung von beträchtlicher Tiefe bezeichnet, einerlei, welchem
Objekt sie gilt, ob das nun Landschaften, schöne Weiber-
beine, Alkohol, Wissenschaft, Gott, rosa Bänder oder Kinder
sind. Die Sprache findet, daß die Strebung das Wichtige ist,
sie erklärt alles Begehren für identisch, alles, von einer
bestimmten, so schwer definierbaren, so sdiön bedichtbaren
Art und Tiefe. Sie erklärt es alles für das Eine, das I reud
Libido oder Eros nennt. Unsere prüde Zeit 1 hat freilich ge¬
funden, daß es eine Anzahl von Objekten gibt, die unrein
sind und merkwürdigerweise nicht etwa Geld, Anthro¬
posophie, Krieg und unsere famose Gesellschaftsordnung für
verfehmte Objekte erklärt, die man zwar lieben kann, —
l) Von der verlogenen Prüderie unserer Zelt zu sprechen, ist dem
Psychoanalytiker, dessen Wissenschaft so stark unter diesem laktum zu
leiden hat, eine liebe Gewohnheit. Ich darf sie umso eher festhalten, als
ich Eltern und Erzieher unter den Lesern dieses Buches erwarten darf. Und
ln diesen Funktionen sind Alle auch heute noch prüde. Aber es soll nicht
vergessen sein, daß der Kreis der Schamlosen in den letzten zwei Jahr¬
zehnten sehr viel größer geworden ist. Noch weniger aber sei vergessen,
daß die programmatische Schamlosigkeit derselben fatalen psychischen
Situation entspringt wie die Prüderie. Eins kann unvermittelt ins andere
übergehen. Beide Extreme bieten nicht die Atmosphäre, in der Erziehungs¬
wissenschaft und psychologische Wissenschaft gedeiht.
Ul
denn alles kann man lieben — aber nicht lieben darf, ohne
die Liebe selbst zu entheiligen, sondern sie hat festgesetzt,
— perverser Meise daß die Liebe, die den besonderen
Reizen des anderen Gesdiledites gilt, die die tiefsten Er-
sdiütterungen und die höchste Lust gewährt, die „unser
Erdenwallen durch Zeugung verewigt”, die dem urältesten
Objekt auf Erden gilt und uns mit allem Organischen ver¬
bindet, ausgerechnet die Geschlechtsliebe bewertet sie als
unrein. Und um die Reinheit der übrigen Objekte zu er¬
halten, sollen Abgründe des Wesens diese Liebe von jener
Liebe trennen. So widersinnig, daß man es mit den Vokabeln
der Sprache, die hartnäckig Liebe und Liebe als Liebe be¬
zeichnet, gar nicht klar ausdrücken kann. Die Bewertung kann
ich mir aufzw ingen lassen, ich kann sie respektieren, wenn idi
will, wenn ich in Ruhe leben will, aber das Opfer des Intellektes
kann ich ihr nicht bringen. Niemand darf es mehr, seit dieser
Mann, Sigm. I reud — darin allein schon groß, über jeden
Vergleich - unerschrocken vor der Fehme der Prüderie die
sogenannte geschlechtliche Liebe als die ursprüngliche, als
die wesentlidie, vorbildhafte, zielgeredite erkannt hat und
alle andere Liebe als abgeleitete, zielabgelenkte erwiesen
hat. Diese Auffassung hat nichts mit der Bewertung zu tun.
Es bleibt jedem Prediger unbenommen, die Liebe zum Genitale
als unreine, die zur Disciplina gynopygica als heilige Hand¬
lung zu beurteilen, darum bleibt doch diese abgeleitete, von
jenem Ziel eben durch diese Bewertung abgelenkte, die
ursprüngliche Liebe. Und es lebt in der schwarzen Seele
solchen Predigers die alte, ewig gleiche Liebe zu ihrem
ursprünglichen Objekt, freilich im noch schwärzeren Verließ
des verdrängten Unbewußten fort, und sie ist es, die ihn
treibt zu solcher lauten Predigt und zu leisen Versuchungen,
denen er manchmal - hoffe ich - erliegt.
Solch zielabgelenkte Liebe ist es, die den Erzieher zu
142
„seinen” Kindern treibt. Sein Tun ist durch diese Fest¬
stellung nicht entwertet. Aber er wird auch in seinen Wider¬
sprüchen durch sie verstand lidi. Denn die ziel abgelenkte Liebe ist
die kompliziertere, sie schafft Situationen tiefster Befriedigung,
ganz so wie die zielgeredite, sie schafft aber auch Situa¬
tionen tiefster Unbefriedigung. Sublimierung hat lreud mit
einem bequemen Wort die Zielablenkung der Libido von
ihrem ursprünglichen, dem Sexualziel und dem Sexualobjekt
auf ein anderes, kulturell hodi gewertetes Objekt oder Ziel,
genannt. Die Liebe des Erziehers zu Kindern ist echte
Liebe, freilich sublimierte. Das Kind ist kein geeignetes
Objekt für die Sexualliebe des Erwachsenen. Wo dies einem
Individuum triebhaft so erscheint, bewerten wir es als Per¬
version oder Verbrechen. Und durch diese Verurteilung
allein schon wird das Kind völlig ungeeignet zur direkten
und ursprünglichen Befriedigung. Hatte der Erzieher soldie
Tendenzen, so verwarf er sie energisch, verdrängte sie sorg¬
fältig und restlos aus seinem Bewußtsein, wehrt ihren Durth-
brudi in Aktion erfolgreidi ab. Er Hebt das Kind und die
Kinder vielleicht mit ein wenig Zärtlichkeit, die er gibt und
mit etwas mehr, die er nimmt, doch nicht einmal dies ist
nötig, sondern er liebt cs im „allgemeinen”, indem er sich
ihm, seiner Zukunft, seiner Entwicklung widmet. Das Maß
an solcher sublimierter, sublimer Liebe, das einem zur \ er-
fügung steht, ist ein wesentlicher und meist redit fiiih in
der Jugend erworbener Zug seines Charakters. V on ihm
hängt nicht zuletzt der soziale Wert des Individuums ah,
denn diese Liebe ist die eigentlich selbstlose; sie hat ihre
Befriedigung 1 in sich selbst - sie fordert vom Objekt im
Grunde nicht: mehr, als daß cs Dienste annchme. Fragt sidi
dann nur nodi, welches Objekt gewählt wurde, ob Brief¬
marken oder Kinder, und welche Dienste es annehmen soll,
ob Prügel oder FreundUchkeit. So wäre der moderne Erzieher,
143
der ein wichtiges Objekt und freundlidie Dienste zum Ziel
seines Liebestuns gewählt hat, nidit allein ein bewunderungs-,
sondern audi ein beneidenswürdiges Subjekt. Nur leider, daß
der Vorrat an jener echten sublimen Liebe bei uns heutigen
Menschen — auch bei deren Erzieher - allzu gering ist,
nidit ausreicht einem einzigen Kinde das Abc zu lehren,
eines einzigen Jünglings Konflikte anzuhören. Und dieser
Mangel wird ersetzt durch scheinbar sublime, in Wahrheit
gänzlich unabgelenkte, aber von ihrem ursprünglichen Ziel
abgedrängte Libido. Derer hat der Erzieher überreichlich.
Aufgewadisen in einer Gesellschaft, die im Grunde auf Haß
gebaut ist — freie Konkurrenz, Ausbeutung, Krieg, Besitz,
Profit, sind ihre gesetzlich geschützten Signette — sind seine
Liebestriebe von Kindheit an, weder gesättigt noch kulti¬
viert, sondern verkümmert, verdrängt verwildert. Dürfen
sie sich sättigen, so ist die Befriedigung lahm und gebrochen,
mit Sdiuldgefühl beladen, neurotisch verkürzt oder mit
Konflikten belastet, denen durch Verzicht zu entgehen erträg¬
licher erscheint. Und sie dürfen nicht einmal, die guten
Erzieher. So drängen sie den Wunsch nach Weib oder Mann,
Kind, Liebe, Selbstsicherheit und Geliebtheit auf die fremden
Kinder, die dieses nicht erfüllen können, selbst wenn sie
wollten und jenes nicht einmal soviel dürfen als sie viel¬
leicht könnten. So trägt die scheinbare sublime Liebe des
Erziehers den Keim zur tiefsten Unbefriedigung in sich,
denn sie ist es aus Not - innerer und auch äußerer - und
darum bloß zur Not. Schon der geringsten Belastungsprobe
nicht gewachsen.
Tiefer ins Verständnis, tiefer aber auch in die Struktur
der Seele und in die Widerstände gegen die Freudsche
Lehre führt uns die nächste Schichte der Antwort. Wir
erinnern uns der zentralen Freudschen Entdeckung: jedes
Kind entwickelt eine tiefe Liebesneigung zum anders-
144
geschlechtlichen Elternteil und im Zusammenhang damit
heftige feindselige Impulse gegen den gleidigesdilechtlidien
Elternteil als gegen seinen Rivalen. Der Knabe liebt seine
Mutter und wünscht an seines Vaters Stelle bei ihr zu
herrschen, dessen W iderstände mit Todes-, Rache-, Ab-
neigungs-, Aggressionsimpulsen beantwortend. Er findet sich
in derselben Situation, die die Sage Ödipus zudiditet, der
seinen Vater ersdilug und mit seiner Mutter schlief.
Unwissentlidi und dennoch schuldig. So wie das Kind
unschuldig, unbewußt sogar in die Ödipussituation hinein¬
wächst und doch schuldig gesprochen wird von seinem
eigenen Ich. Die Ödipussituation ist eine notwendige Ent¬
wicklungsphase. Es dauert einige Jahre, drei, vier, fünf, bis
das Kind in sie gerät, um sie nadi weiteren paar Jahren
zu überwinden. Sie fehlt in keinem Fall. Audi dann nidit,
wenn das Kind - der berühmte Waisenknabe der Gegner
aller Psychoanalyse — nicht mit seinen leiblichen Eltern
aufwächst; es spielt diese Phase dann an geeigneten Ersatz¬
figuren ab. Komplizierte Familienverhältnisse komplizieren
die Ödipussituation, das ist alles. Aber nicht einmal sicher.
Denn wir durchschauen noch keineswegs die Bedingungen,
unter denen die mannigfaltigen Variationen und Komplika¬
tionen des Ödipuskomplexes entstehen oder vermeidbar sind.
Keinesfalls kann ein Kind in der Familie - einer Paargruppe -
aufwachsen, ohne den Ödipuskomplex zu akquirieren. Sein
Untergang ist die sdiledithin entscheidende Station der see¬
lischen Entwicklung. Das derzeit als normal gesetzte Ende der
infantilen Situation, die konventionelle Untergangsweise,
bringt die definitive Abspaltung einer großen Zahl kind¬
licher Wünsche, Erlebnisse, Triebe als verdrängtes Unbewußtes
vom Idb das auf diese Weise, von allen Spuren, jeder
Erinnerung, jedem Erleben der Urvcrbredicn Inzest und
Vatermord gereinigt, durch Schuldgefühl, Gewissen, einen
Bernfeld, Slsyphos 10
145
überbau von Idealen, Zielen, Satzungen vor dem Durch-
brudi des Verdrängten sidi sichert. Das Verdrängte aber ist
bei weitem nicht erledigt, es bleibt lebendig im Verborgenen
und wirkt auf das Denken, Handeln und vor allem auf das
Lieben dieses Idi - entstellt, darum von ihm nidit erkannt,
unbewußt, darum nidit bemerkt - nachhaltig, entschieden
und andauernd ein. Die Wirksamkeit dieses Verdrängten
des Ödipuskomplexes, hat ein fanatisch und sdilau fest¬
gehaltenes Ziel: die Kindheitssituation mit ihren Wünschen
ihren Erfüllungen, ihren Schicksalen wieder licrzustellen
Wo und wen und was wir lieben: Es liebt in uns und Es
hebt nur in der einmal schon erlebten Weise. Mit jenen
Entstellungen, jenen Korrekturen, jenen Kompromissen, die
as Ich erzwingen kann, erzwingen muß, um nidit vis-ä-vis
dem einen: dem Unterbrechen zu stehen.
Entsteht zwisdien Kind und Erzieher überhaupt eine Be¬
ziehung, so wird unweigerlich und unvermeidlich die ödinus-
beziehung sich aus ihr entwickeln. Und zwar von beiden
Seiten her. Das Kind wird den Erzieher lieben (oder hassen
Oder heben und hassen), wie es Vater oder Mutter liebt
oder liebte. Es bringt ihm stürmisch, hartnäckig und, wenn
es sein muß, verschlagen die Wünsche entgegen, die es zu
ihnen hegte, und wird sidi getrieben sehen, das Schicksal zu
wiederholen, das sie damals erfuhren. Und der Erzieher,
was bleibt ihm anderes übrig, als diese Rolle anzunehmen’
einerlei, ob er das Kind liebt oder nicht. Er setzt das Werk
der Eltern, und wäre es mit anderen Mitteln, fort oder
wiederholt es in einer dem Kind neuen Weise: er arbeitet
auf den Untergang des Ödipuskomplexes hin, wenn auch
des Kindes Sexualliebe zu ihm nicht Inzest, des Kindes
Aggression nicht Vatermord sind. Unser Erzieher liebt aber
das Kind. Er spielt seine Rolle freiwillig, mit Begeisterung
und Hingabe, unter dem Wiederhol ungszwang, wenigstens
146
unter den Einwirkungen seines eigenen Ödipuskomplexes.
Dies Kind vor ihm ist er selbst als Kind. Mit denselben
Wünsdien, denselben Konflikten, denselben Sdikksalen. Die
wirklichen Unterschiede wiegen hier leicht. Sie sind Unter-
sdiicde des Iths, soweit sie überhaupt zählen, aber nicht
Unterschiede der Triebe und ihrer Wünsche. Und sein Tun,
sein Erfüllen und Verbieten ist das seiner eigenen Litern.
Er ist in dieser pädagogischen Paargruppe zweimal enthalten:
als Kind und als Erzieher. Reichlidi kompliziert, aber noch
nicht genug. Denn er als Erzieher, er ist gar kein Er, kmn
Ich, sondern ein denkendes, handelndes Ich, dem eine ufa-
fremde Gewalt: das Triebwünsdmn seines Verdrängten,
hemmend und treibend gegenübersteht. So steht der Erzieher
vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem
verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu
behandeln wie er dieses erlebte. Denn was jenem recht,
wäre diesem billig. Und er wiederholt den Untergang des
eigenen Ödipuskomplexes am fremden Kind, an sich selbst.
Er wiederholt es audi dann, wenn er scheinbar das Gegen¬
teil all dessen tut, was ihm seine Eltern antaten.
41so ich finde diese pädagogisdie Situation reichlich kom¬
pliziert und sehe des freundlichen Lesers Hoffnung sdiw en¬
den in diesem Wirbel von Affekten rationales Tun, zie
bewußtes Handeln nach Prinzipien und den Resultaten der
Empirie zu erwarten. Aber das eine wenigstens wird er
vermuten: sie bietet tiefe Befnedigungsmöglichkeiten für
den Erzieher, wenn die drei Partner, das Kind vor ihm, das
Kind in ihm und sein Ich, in Harmonie sich in der großen
Wiederholung finden. Ebenso groß freilich ist die Möglich¬
keit tiefster Unbefriedigung. Ja sie ist eigentlidi unvermeid¬
lich auf die Dauer und ein seltener lall, wenn sie nicht
eintritt Denn die beiden Kinder wollen die Wiederholung
der Ödipussituation, das Ich will die Wiederholung ihrer
10*
147
OWwmdung, ihres Untergangs. Es antwortet mit Schuld-
ge 1)1 oder seinen mannigfaltigen Äquivalenten, die dem
Psychoanalyse-Kundigen nidit aufgezählt zu werden braudten
dem Unkundigen in einem Nebensatz nidit verständlidi ge-
madit werden können, die aber alle Unlust erzeugen,
Hemmung, Überdruß - wenn sidi die von ihm verworfene
Liebessrtuation einstellen will, das verdrängte Kind weiß
sah zu radien, wenn sie ihm verwehrt wird. So wird der
Erzieher auf das Kind vor ihm mit Ärger, Strenge, Inkon-
sequenz, Verfolgung reagieren - sich meint er und den
Zögling schlägt er; und verliert dessen Liebe, die er doch
reihch im erlaubten Maß, in vorgeschriebener Weise erstrebt’
Er wd sich to dieser Sit „ ation redl „ crtig( . n _ dur(h
stisdie Pädagogik. Verliert er die Liebe des Zöglings so
he- r d 0 " , d u Mensd,heit Sf e winnen für sein mensch-
heitsfordemdes, -beglückendes Tun. Andererseits gelingt
es ihm, das Schuldgefühl zu übertönen, wenn die Liebes
harmonie zwischen den beiden Kindern hergestellt ist, indem
sein Idi diesen an sich verwerflichen Akt, als Mittel zur
Mensdlheitsrettung und -Wandlung geheiligt, gestatten darf
oder muß.
Eine Reihe von kleinen und großen Fragen, die idi kurz
angedeutet oder audi unterdrückt habe, wären von diesem
Punkt aus auf allerhand Seitenwegen zu beantworten. Idi
muß dies dem eigenen Penken der Leser überlassen, denn
ich soll in diesem kurzen Buch von den Grenzen der Erzie¬
hung sprechen; und trotz der 148 Seiten, die bereits hinter
uns liegen, ist erst eine dieser Grenzen erreicht. Darum sei
mit Unterlassung aller Seitenblicke festgestellt, daß uns die
Erörterung, die idi unternahm, um von der Desillusionierungs-
urdit midi und den Leser zu befreien, an die Grenze der
Erziehung geführt hat, die durch die seelischen Tatsachen
im Erzieher gegeben ist; wir erkennen als Grenze für alles
148
ins Große gedachte pädagogische Wollen die Konstanten,
die seelischen Konstanten, im Erzieher als dem Erziehungs-
subjekt. Wir sind längst schon auf sie gestoßen, sie entlang
gegangen, nun erst wollen wir sie als solche erkannt haben.
Und wie das so zu sein pflegt, daß man die Talwärts¬
wanderung gern im Laufschritt nimmt, Serpentinen kürzend,
kleine Abhänge hinunterspringend, um so eiliger, je näher
der Abend kommt, kürzen wir unseren Erörterungsweg am
Ende, das sehr nahe ist, und springen unvermittelt an die
dritte Grenze der Erziehung. Wir können diesen Sprung
unbesorgt wagen. Niemand hat gezweifelt, daß er diese
folgenden Sätze in diesem Buch finden wird, er dachte freilich,
der Spaziergang würde an dieser Mauer entlang beginnen
und langsam, stundenlang ansteigend, hinaufführen. Denn
jeder Bädeker für pädagogische Ambulationen rät auszugehen
von der Erziehbarkeit des Kindes; sich einen deutlidien
Eindrude von den psychologisdien Möglichkeiten zu ver¬
schaffen, die die Natur des Kindes jedem Erziehungseinfluß
bietet, den Widerständen, die sie ihm entgegensetzt. Die
Grenze der Erziehung ist nach der gebräuchlichen Anweisung
die Erziehbarkeit des Kindes, seine Konstitution, seine Yer-
änderbarkeit. Es ist nur eine Grenze; aber die allbekannte,
wenigstens die meistens bedachte. Daher schien es mir
lohnender, den Spaziergang umgekehrt zu machen, diesen
steinigen und langweiligen Weg talwärts am Abend zu
nehmen und den Anstieg über die aussichtsreidieren und
versdilungeneren Wege zu gehen, die die pädagogischen
Cicerones nicht kennen.
Uber die Erziehbarkeit des Kindes haben sich Pädagoglker
gelegentlich sehr pessimistisch geäußert; so sehr, daß sie
eigentlich die Pädagogik als Ganzes hätten für überflüssig
erklären müssen. Das aber taten sie doch nicht. Ich neige
zwar zu dieser Einstellung, sehe aber doch nicht so schwarz
149
in der Frage der Erziehbarkeit. Unter dem Eindruck des
Darwinismus, der Vererbungslehre, der Konstitutionsforsdiung,
der Lehre von der Determination des Psychischen mochte
man sich leicht die Vorstellung bilden, daß das ganze künftige
Leben des Menschen im Augenblick der Zeugung bereits
beschlossen ist, daß das Leben des Menschen nichts anderes
ist als der Ablauf eines mechanischen Puppenspiels, in dem
jede Bewegung vom Mechanikus vorausbestimmt ist, und daß
es nur Kindern, die das Uhrwerk nidit verstehen und von
ihm nichts wissen, als freie Handlung der Spielfiguren er¬
scheinen mag. Freilich ist solch ein Determinist nicht viel
besser daran als diese Kinder. Er weiß, da ist solch ein Uhr¬
werk, aber auch er versteht es nicht, er kann nicht Vorher¬
sagen, wie sich die Puppen drehen werden, er muß mit ihnen
verkehren, als wären sie freie, in nidits bestimmte Persön¬
lichkeiten, und weiß dodi, daß sie es nicht sind. So ist er
schlimmer als die Kinder dran. Er wird als Pädagoge sagen,
was immer am Kinde erzogen wird, es wird sich doch nie
anders verhalten, als der Mechanikus die Drähte und Federn
gestellt hatte. Wir haben den Chok des Darwinismus und
der V ererbungslehre überwunden. Wir sehen, daß sich die
Menschen keineswegs wie Puppen drehen. Ihr Schicksal ist
vorausbestimmt - gewiß - vom Augenblick der Zeugung an,
es wird aber erst fällig in einer bestimmten Biosphäre, in
einem bestimmten Milieu, es wird konkret an bestimmten
Erlebnissen, durch gewisse Einflüsse von außen. Das Leben
des Menschen ist Rekapitulation, aber nicht Rekapitulation
des Lebens des Vaters oder des Urahns. Denn es ist neben
der Rekapitulation, außer ihr noch ein Eigenes. Es ist ein
Konkretum, es verläuft an einem konkreten Ort, in einer
konkreten Zeit, unter konkreten Umständen. Und was wir
das Leben des Einzelnen heißen, ist jene individuelle, ein¬
malige Nuance der Rekapitulation, die der allgemeinen. Ten-
150
denz durdi ihre konkrete Lokalisation aufgeprägt wurde. Es
gibt Zufälle. Dem Embryo war die stolze Hakennase vor¬
bestimmt, die der Vater trug, es sollte sie wiederholen, so
wie er sie seinem Vater nachtrug und dieser seinem. Die
unvorsiditige Amme hat diesen Plan der Natur zerstört.
Heute nodi zeigt das Mißgebilde die Absiditen der wieder¬
holungswütigen Natur und die Zerstörung des Zufalls — 1 all
aus dem Kinderwagen — in groteskem Kompromiß. Und das
Individuelle am Leben ist nichts als das System dieser Zu¬
fälle, das Kompromiß zwisdien diesem System und der Re¬
kapitulation. Die Tendenz zur Wiederholung ist allgemein,
ist vieldeutig. Und mein Leben ist eine der müglidien
Deutungen. Gewiß die einzig möglidie Deutung, rebus sic
stantibus: als diese meine Erberfahrung in diese meine
Zufälle geraten war. Das Individuum ist vielfältig gesdiiditet.
Es ist ein Plasma Organismus, als soldier ein höchst all¬
gemeines Ding, von allen anderen nidit bcmerklidi unter¬
schieden, das Plasma-Sdiicksal auf Erden wiederholend, einer
der ungezählten Billionen Fälle. Es ist ein Säugetier mit
allgemeinem Säugetiersdiicksal. Es ist ein Proletarier vom
Jahrgang 1890. Es ist ein Ego schließlich mit seinem eigenen,
einmaligen Schicksalsgesidit. Und gerade diese oberste,
schmälste und dünnste Schidite ist dem Individuum die
wichtigste, sie allein ist die seine; die Zufälle, die sie bildeten,
sind für ihn Erlebnis, Schicksal. Er wehrt sich dagegen, sie
als sinnlose Zufälle zu werten, er möchte sie als sinnvolle
Leitung eines freundlidien Gottes oder eines V ereines
geheimer Männer, wie Wilhelm Meister, deuten, er mödite
sie Erziehern danken können. Diese individuelle Schidite ist
auch die für die Erziehung im engeren Sinne bedeutsame.
Es ist falsch und töricht, zu leugnen, daß in dieser Schichte
sehr bedeutsame Wirkungen gerade durdi die Erziehung er¬
reicht werden, die eben ein Stück des Systems von Zufällen
151
ist, das in der individuellen Prägung Leben heißt. Die Be¬
einflußbarkeit auch in dieser Schichte ist begrenzt und variabel,
aber sie ist in einem beträchtlichen Maße vorhanden. Man
darf sich hier fast optimistisch äußern, ist das Kind auch
nicht beeindruckbar wie Wadis, so ist es dies noch eher als
starr und spröde wie Metall. Die Möglichkeiten und Grenzen
der Beeinflußbarkeit des Kindes genauestens abzuwägen und
zu bestimmen, wäre eine wichtige Aufgabe der Erziehungs¬
wissenschaft. Derzeit aber hat sie nodi wenig Sidieres zu
ihrer Lösung getan.
Diese Lücke durch Behauptungen auszufüllen, ist im Zu¬
sammenhänge dieser Schrift nicht so wichtig, als darauf auf¬
merksam zu machen, daß die Hoffnungen, die von hier aus
der 1 ädagogik erwachsen, nicht sehr bedeutend sind; wenigstens
nicht für die Pädagogik mit ihren heutigen Grundeinstellungen.
Wäre seihst die Beeinflußbarkeit unbeschränkt, die Prognose
ist äußerst unsicher. Und auf die Prognose kommt es der
Pädagogik an. Es nützt ihr wenig, zu wissen, daß Jede Er¬
ziehungsmaßnahme - wenn es seihst so wäre - einen sicheren
Einfluß auf das Kind haben, sich in seinem künftigen Charakter,
seinem erwachsenen Verhalten nadiwirkend bemerkbar machen
wird; sie müßte wissen, welchen Einfluß eine bestimmte
Maßnahme, weldien spezifischen Erfolg sie haben wird. Und
solche Prognose ermöglicht uns auch die vorgeschrittenste
Psychologie nicht, die wir heute denken können. Es liegt das
im Wesen des Psychischen. Zwei chemische Stoffe in dem¬
selben Mischungsverhältnis, unter den gleichen Bedingungen
an Druck, Temperatur usw. zusammengebracht, verbinden
sich immer in der gleichen Weise, immer zum gleichen
Resultat. Der Chemiker kann dieses Resultat, wenn er es
nur herstellen will, unter genauer Einhaltung der Bedingungen
erreichen, er kann es von allen weiteren „Wenn” unein-
gesdiränkt für gewisse Bedingungen Voraussagen; seine
152
Prognose ist eindeutig. Denn Jenes H und O, das er zu Wasser
verbindet, hat keine Geschichte. Was immer sie vorher erlebt
haben mögen, in welchen Weltteilen, in welchen Verbindungen
sie gewesen sein mögen, sie reagieren, wie H und O zu reagieren
pflegen. Zwei Kinder aber, die man der identischen Ma߬
nahme aussetzt, können gleichartig reagieren; es ist dies
aber nicht gewiß, denn jedes von ihnen hat eine andere
Geschichte gehabt, und die Geschichte, die ganze Geschichte
des Individuums, wirkt auf die Handlung, auf jede psychische
Reaktion. Und die Prognose wird in hödistem Maße un¬
sicher. Ich weiß niemals genau, wie sich das Kind in der
geplanten Erziehungssituation benehmen wird, ich weiß nicht,
wie sie auf es wirken, wie lange die Wirkung dauern, was
ihr sdiließlidier Erfolg in dreißig Jahren sein wird. Und nicht
einmal die Kenntnis der Gesdiidite des Individuums wird
die Sicherheit der Prognose beträchtlich beeinflussen. Nur
soweit die gemeinsame Geschichte der Individuen reicht,
soweit handeln sie gleich (sind sie gleich beeinflußbar,
behandelbar). Und alle Menschen haben auch ein sehr
beträchtliches Stüde identischer Gesdiidite, darum sind sie
einander so verblüffend ähnlich, ununterscheidbar ähnlich für
ein distanziertes Wesen, wie uns Nichthirten eine Schafherde
erscheint. Aber dies betrifft ihre unterindividuellen Seelen-
schiditen; und die Pädagogik will es mit den individuellen
zu tun haben.
Aus der mehr weniger dumpfen Erkenntnis dieses lat-
bestandes hat eine Gruppe von Pädagogikem ihre und der
Menschheit Hoffnungen auf freud gesetzt. Aber durchaus
vergeblich, aus Mißverständnis, zum Teil mit Unverstand sogar.
Seit Freud erst beginnen wir Seelenleben und Kindheit zu ver¬
stehen. Die Psychoanalyse ist die einzige - bisher erfundene -
Methode, die wesentliche Seelengesdiidite eines Menschen
kennen zu lernen. Sie ist eine historische Methode sozusagen;
153
sie lehrt, welche Zufälle Einfluß hatten, sie läßt diesen Ein¬
fluß gelegentlich sogar sehr sdiarf von den Wiederholungs¬
tendenzen, die er störte oder individuell prägte, scheiden.
Sie ist zu generellen Einsichten gelangt, sie lehrt uns all¬
gemeine Verhaltungsweisen der Psyche formulieren, dem
Individuum gegenüber Weiht sie aber historisch. Sie weiß
nicht mit Sicherheit, wie es reagieren wird, so genau sie auch
weiß, wie es reagiert hat und diese Reaktion eindringend
verstand. Ihre Prognosen sind nicht völlig unsidier, aber sie
sind bestenfalls alternativ. Vor diesem bestimmten Kind und
dieser bestimmten vorgeschlagenen Maßnahme kann sie
bestenfalls etwa prognoszieren: dies Kind wird entweder zur
\ crdrangung oder zur Sublimierung veranlaßt sein; in jenem
Fall entweder mit Reaktionsbildung oder mit Ausfalls¬
erscheinung; bei ersterer Möglidikeit entweder - oder usw.
Sdion das wäre derzeit unerlaubtes Wagnis; aber es ist nicht
unerreichbar. Audi die Psychoanalyse hilft demnach der
Pädagogik nicht, die der individuellen Prognose bedarf, deren
Objekt ein bestimmtes Kind, das Kind der Eltern Mayer ist.
Dieser Pädagogik hilft audi die optimistischste Auffassung
\on der Beeinflußbarkeit des Kindes nidit. Jede ihrer Ma߬
nahmen bleibt ein Wechsel auf zwanzigjährige Sidit aus¬
gestellt; niemand kann ihn girieren, niemand die Bonität
des Sdiuldners beauskunften. Wobei es gleichgültig wäre, ob
man das Kind oder seinen Erzieher als Sdiuldner bei diesem
immer zweifelhaften Geschäft anschen will.
Dennoch bleibt auch in Bezug auf die Prognose die Er-
ziehbarkeit des Kindes ein reichiidi optimistisdies Kapitel.
Denn bei aller Unsicherheit der eindeutigen individuellen
Prognose ist eine kollektive Prognose möglich, die auf der
weitgehenden Ähnlichkeit der Geschichte der Menschen und
er Ähnlichkeit ihres psychischen Verhaltens beruht- Die
Kenntnis der menschlichen Seelengeschichte, der allgemeinen
154
und der individuellen, wie sie die Psydioanalyse bietet, die
Erfahrung, welche die Erziehungswissenschaft wird bieten
können - sie erlauben vor einer Gruppe von Kindern zu
prognostizieren, daß ihrer eine beträdiliche Zahl, die über¬
wiegende Mehrzahl vielleicht, auf eine geplante Maßnahme
in einer bestimmten Weise reagieren wird. Kein Mittel
könnte ausgedadit werden, das garantiert, aus jedem kind¬
lichen Verwahrlosten ein erträgliches Wesen zu machen,
wohl aber gibt es Mittel, die versprechen, daß dies mit
einiger Wahrscheinlichkeit gelingen werde. Diese Selbst-
verständlidikeit ist von immenser Bedeutung, mag sie audi
anscheinend nicht mehr sein als die vorsichtige Formulierung,
die der Unvollkommenheit aller mensdilidien Erkenntnis
Rechnung trägt. In Wahrheit ist sie ein Prinzip für sich. Denn
aus ihr folgt eine Prognose, die unter gewissen sozialen
Gegebenheiten ausreicht, um auf ihr eine völlig genügend
sidiere Basis für erzieherische Maßnahmen zu errichten.
Handelt es sidi nidit mehr um das Kind der Eltern Mayer,
sondern um die ganze heute geborene Kindergeneration des
Staates, so hat sich der Wert der kollektiven Prognose ver¬
ändert. Sie ist nicht mehr die vorsiditige, unverbindlidie
Formulierung der individuellen Prognose, sondern eine, ein
deutige Auskunft auf Grund deren Entscheid über Wert und
Wünsdibarkeit einer Maßnahme getroffen werden kann.
Denn eine sozialistische Ordnung wird wissen, daß sie jene
Maßnahme durdizuführen hat, die ihr einen gewünditen
Erfolg bei sagen wir 8(/Yo der ihr unterworfenen Kinder
garantiert. Sie ist gar nidit interessiert, wessen Sprößünge
unter dieser Mehrzahl, wessen unter der unbeeinflußt geblie¬
benen Gruppe der Minorität sidi befinden werden, während
die heutige Pädagogik gerade darauf geriditet ist, bei den
kleinen Mayers einen bestimmten Erfolg zu erzielen, das
Schicksal der übrigen Millionen oder Prozente ist ihr Hekuba.
155
Es drängt sich hier der Vergleich mit der Strategie auf,
die - Verwirrung und Unheil genug - sozialistische Methoden
der Menschentötung verwendet, in einer Ordnung, die für
friedlichere und sympathischere Zwecke die mörderischen
Mittel der Haßgesellschaft Kapitalismus eingeführt hat.
Die Armeeleitung schätzt die bei einem Angriff zu er¬
wartenden Verluste, findet sie sich mit ihrer Höhe ab, so
wird sie ihn wagen, und zufrieden sein, wenn ihre Schätzung
sich nicht als zu niedrig erweist. Ob Mayer unter den Toten
oder Lebenden ist, eine Frage, die dessen Verwandten und
f reunden — mit Recht — die wichtigste des Krieges
dünkt, ist dem Kommando völlig gleichgültig. Vorausgesetzt,
daß die Strategie nicht durch Protektion gestört oder viel¬
mehr gemildert wurde. Die Erziehung wird sich immer,
welcher sozialen Ordnung sie auch diene, um die Einzel-
sdncksale kümmern und sorgen. Aber der Entwurf des Grund¬
risses desErziehungswesens und dieBewertungder Erziehungs¬
einflüsse und -mittel im allgemeinen wird in einer Gesell-
sdiaft, deren Erziehungsproblem das Gesamtschicksal der
ebengeborenen Kindergeneration, und nicht das des Säuglings
Mayer ist, weitgehend rationalisiert sein können und müssen.
Sie wird unter Verwendung der Erkenntnisse, welche die
Psychologie Über die Kindesseele und ihre Entwicklung, welche
die Erziehungswissenschaft über die sozialen Wege der
Erziehung und die Konstanten im Erziehungssubjekt vermittelt,
entworfen sein, von ideologischer Rechtfertigung unbewußter
Wünsche auch von verborgenen Tendenzen der herrschenden
Minderheit weitgehend befreit sein können.
Hier liegt innerhalb der drei Grenzen die Möglichkeit der
Erziehung. Ich hoffe, der Leser hat mich nicht im Verdacht,
ich möchte nun die Erziehung und ihre Lehre wenn auch
auf einen von hohen Mauern umgebenen, so doch wind¬
geschützteren Raum überpflanzen, sie im übrigen belassend,
156
wie sie ist. Er wird — so hoffe ich - nicht vergessen haben,
daß die Erzieh barkeit des Kindes nicht nur nicht allein,
sondern nicht einmal hauptsädilidi von den Handlungen des
einzelnen Erziehers bis an ihre Grenze fruchtbar gemadit
werden kann, daß sidi die kollektive Prognose demnach
nicht auf die Erziehung im engeren Sinn beschränkt, sich
nicht einmal auf sie bezieht, sondern auf das Ganze der
Erziehung, auf die Reaktion der Gesellschaft auf die Ent-
widdungstatsadie in ihrer Gesamtheit. Soll die Möglichkeit
der Erziehung irgend einem Zweck zu Nutz gedeihen, in irgend
einem Maß vom Willen und den Zwecken einer Gruppe
bewußt gestaltet werden, muß sie aus der Einstellung erlöst
werden, die als Ziel die Erwachsenheit eines einzelnen
Individuums, als Mittel die Handlungen eines einzelnen
Erziehers vor allem sieht. Jenes ist nie voraussagbar, dieses
nie entscheidend; die Grundlage solcher Orientation ist im
Ödipuskomplex verankert, darum rettungslos jeder Ratio¬
nalisierung entzogen. Die Voraussetzung aber, dies müssen
wir wissen, um das Riditige zu tun, für eine nach dem
Kollektiv um geriditeten Zielsetzung und Prognostizierung,
auf die Totalität der beeinflußenden Faktoren eingestellten
Erziehungsgesinnung ist nur in einer sozialistischen Gesell¬
schaft gegeben, ist jedenfalls in einer von der Tendenz der
herrschenden Kapitalistengruppc kontrollierten und gefärbten
nicht möglidi.
Diese Behauptung möchte nicht als Bekenntnis, sondern als
Erkenntnis verstanden sein. Wenn dies Budi sich auch einen
freieren Ton erlaubt und die persönliche und affektive
Stellungnahme des Autors nicht so sorgfältig verwischt, wie
einer wissenschaftlidien Arbeit ansteht, so ist es doch weder
ein künstlerisches Werk, das Phantasie und Affekt gestalten
und spielen lassen will, noch eine Agitationsschrift, die unter
Argumenten einseitig dem Parteizweck dienliche betont, feind-
157
liehe unterdrückt, sondern das Ergebnis wissenschaftlicher
Einsichten, Konstruktionen, Einstellungen. Daher will ich
nicht für den Sozialismus werben, indem ich ihn als die makellose,
wünschenswerte, allerlösende Zukunft hinstelle; nicht einmal in
Zweifel ziehen, daß es noch sehr fraglich ist, wie weit er seinerzeit
die Menschen befriedigen und die Menschheit befrieden wird;
sondern an dieser Stelle aussdiließlidi feststellen, daß es not¬
wendige Beziehungen zwischen ihm und seiner Erziehung gibt,
und erweisen, daß er jene Ordnung der gesellschaftlidien Dinge
darstellt, in der die Pädagogik wissenschaftlich werden kann,
weil sie nicht mehr nötig hat, ihre Erkenntnisse so einzu¬
richten, daß sie zugleich Rechtfertigung für die Tendenzen
des seine Madit sichernden Kapitals sind und sie Ihre Frage¬
stellungen nicht nach dem Interesse der einzelnen Eltern, als
den Besitzern ihrer Kinder, einriditen muß. Die Erziehungs¬
wissenschaft findet keinen festen Grund unter ihren Füßen,
wenn sie diese im Wesen auf die Paargruppe gerichteten
Fragen beantworten muß. Nur solche aber sind für die
bürgerlich-kapitalistische Ordnung von Wert. Und es gibt
in ihr keine Erzieh ungswissensdiaft, alles Bemühen, das auf
eine solche hinzielte, wird in sich unwissenscfaafdkh, genötigt
von der bürgerlichen Ordnung und ihren Tendenzen. (All
dies als Tatsadienfeststellung und noch nicht als Wertung
gemeint.)
Aber sie kann audi keine Erziehungswissenschaft dulden.
Sie wird ihr weder die Lehrstühle an den Universitäten
noch die Kapitalien für Institute und Verlage überlassen;
sie wird ihr nicht die Autorität verleihen, den Aberglauben
zu zerstören, der sich als fundierte Rechtfertigung des den
psychischen Konstanten entstammenden erzieherischen Tuns
maskiert. Im Gegenteil, sie muß solche Versuche stören, wo
immer sie irgend ein Maß von Sichtbarkeit erlangt haben.
Denn die gesamte Gesellschaft ist auf der Tatsache der
158
Ödipussituation des Kindes und dessen spezifischer Unter¬
gangsform aufgebaut. Und daher muß die Erziehung lind
ihre Ideologie, ihre Wissenschaft, die Folge, die Konservation
dieser Grundtatsadic sein. Die Erziehungswissenschaft, die
hievon abschen wollte, die nadiweisen würde, daß diese
wirklidi geübte Erziehung jenen sozialen Ursachen, diesen
psychischen Voraussetzungen entspridit, daß aber die Redit-
fertigung dieses Tuns - das Pädagogik heißt - Aberglaube
ist, kann sich nur trotz dem Kampfe der herrsdienclen Gruppe
entwickeln, wenn ihr der Sozialismus Atemluft gewährte.
Dies aber ist in erster Linie eine Frage seiner erreiditen
Machtposition. Ich glaube, sie reidit aus für die Entwicklung
einer sozial istisdien Erziehungswissenschaft, für eine un¬
abhängige Erziehungswissenschaft. Die heutige ist, wenn
sie sich auch nodi so frei fühlt oder gebärdet, abhängig, und
zwar von den Tendenzen der herrsdienden kapitalistischen.
Das Phantasma von der völlig freien, von der absoluten
W issenschaft dient nur der Verschleierung ihrer Abhängigkeit.
Audi in der sozial istisdien Gesellschaft; wird der einzelne
Gelehrte, der Betrieb der Wissenschaft, ihre Fragestellung
und ein gut Teil ihrer Methoden begrenzt sein in den
Bereidi der materialen und ideellen, der Denkmöglichkelten
der sozialistischen Ordnung, sie wird ihre jetzigen Abhängig¬
keiten gegen andere ausgetausdit haben, aber sie wird
natürlidi nidit frei, nidit bedingungslos sein. Uns erscheinen
freilidi diese künftigen Abhängigkeiten erträglicher, frudit-
barer als die heutigen; es ist fraglich, wie sie den Be¬
teiligten erscheinen werden, und wir tun gut, uns dieser
Tatbestände erinnernd, von sozialistischer Erziehungs wissen -
sdiaft zu sprechen, die wenn audi nidit die, so dodi eine
wünschenswerte Wissenschaft ist. Ihre Förderung, meine idi
nun, könnte heute bereits von der Machtposition des heutigen
Sozialismus aus geschehen. Sie würde gewiß dessen Fundierung
159
rückwirkend fördern. Aber die Sozialisten selbst erfassen
diese Möglichkeit nicht. Sie sind rückständig in ihren päda¬
gogischen Auffassungen, stehen in ihnen hinter dem er¬
reichten Denkniveau in anderen sozialen Fragen, hinter dem
erkämpften Machtstandard zurück. Die Arbeitermassen und
selbst ihre weitblickenden Führer haben den Gedanken der
kollektiven Erziehungseinrichtungen und der rationalisierten
Erziehungsmaßnahmen nicht erfaßt. Sie sind blind befangen
von dem Aspekt der bürgerlichen Erziehung, die derzeit -
natürlich — die einzige ist und die ihrer psychischen und
sozialen Struktur nach eine individuelle, die Wiederholung
der Ödipussituation und seines Unterganges in der Familien¬
sphäre, unter dem t amilienvorbild, in der Paargruppe ist.
Von dieser Rückständigkeit aus finden die Möglichkeiten der
Erziehung eine neuerliche Grenze. Hier zum erstenmal eine
übersteigbare. Warum soll der Sozialismus, der gelernt hat,
daß es nicht darauf ankommt, die Einkünfte der Besitzenden
unter die Besitzlosen zu verteilen, sondern daß es auf eine
neue - eben die sozialistische - Struktur ankommt, warum
sollte er nicht lernen können, daß es in der Erziehung nicht
darauf ankommt, die Vergünstigung der Mittel- und Hoch¬
schule dem Proletarierkind zu vergönnen und zu erwirken,
sondern auf eine neue Erziehungsstruktur? Diese Einsicht
stellt sich her, so wie der Sozialismus die Macht in der Gesell¬
schaft erobert; man hat es in Sowjetrußland gesehen. Aber
sie kann sich vorbereiten, noch ehe das geschehen ist. Man
kann es erhoffen, ohne zu behaupten, daß die Erreichung
des möglichen Niveaus in Dingen der sozialistischen Er¬
ziehung von überragender Wichtigkeit für die Entwicklung
des Sozialismus wäre.
Wie weit die Erziehbarkeit des Kindes reicht und wodurch
sie erzielbar ist, spielt bei all dem gar nicht die entschei¬
dende Rolle. Ich deutete bereits an, daß ich hier in gewissem
160
Sinne optimistisch bin. Wir haben keinen Grund zur An¬
ahme daß die Rekapitulation der Menschheitsgeschichte im
"„dividuum bis zum Aufbau des Über-Itb, z.um LWgang
des Ödipuskomplexes reiche. Es reicht a so e .n 1 “ n
des Kindes gewiß vom vierten oder sechsten Jahre an voll m
2 Sphäre der Erziehbarkelt, die durdt die Annahme der Be¬
stimmtheit des Über-lth-Schicksals durdt die vor “ ul | g ® B “®
i . rhrinki aber dwrdi die Möglichkeit Aon
Jahre zwar e,n B es*rank, ab ^ Triebe und die
Vorbereitungen aucn erwui
allgemeinen Mechanismen und Verhaltungsweisen, sie sind
gewiß in ihrem Bestand, Ziel und Ablauf vorhanden und
B , von den Wirkungen der beeinflussenden Umwelt
bh^r dt Inhalte aber des Seelenlebens, die
Schicksale der Triebe, der Ausbau des Ichs und Über- is,
sie sind von der Umwelt gestaltet, mitgestaltet. Andc-
rungen in ihr werden - kollektiv prognostizierbar -
Änderungen in den Individuen hervorrufen. Und so¬
weit sich diese Änderungen verständlich machen lassen er¬
folgen sic in mannigfaltigen Abwandlungen desselben 1 nn-
dns sie werden von Unlust und Versagung erzwungen, die
A gewohnten (ererbten oder erworbenen) Verhalten s.di
Cm „ .11 ob sie nun vom Erzieher absichtlich gesetzt
entgegens e en, «entlieh mitgegeben sind. Sic
oder durdi die Umgebung unwis ^ , ur Subli-
nötigen zur Unterdrückung, zur S<hu ldgefühl sind
mierung, zur Identifizierung. Unlus , ” ’ k „„treten Ver¬
dis Motoren, die die Erziebbarkelt zur konkreten
änderung aktualisieren. Sie sind aber nicht ungefährlich, in¬
dem sie die Entwicklung weg von dieser versagenden, äng¬
stigenden, sdiuldmadienden Umwelt treiben das Kind bis
zur Idiotie dieser Welt entfremden können. Sie müssen für
, cd e„ Verzicht, für jedes Verbot, für jede Versagung Ersatz-
ust bieten. Und weil Ersatzlust immer eine fragliche Sache
bleibt so wird die Umwelt so gestaltet sein müssen, daß sie
Bernfeld, Slsyphoß 11
verhältnismäßig wenige Verzidite fordert; sie wird der Kraft,
der Rekapitulationsstufe, der Triebhaftigkeit, dem Lust¬
begehren des Kindes angepaßt sein müssen, sollen die Kinder
an und in ihr zur Übereinstimmung mit ihr heranwachsen
und nicht in Neurose oder Verbrechen von ihr abgewendet
oder zügellos gegen sie gewendet, verkümmern oder ver¬
wildern. Damit geraten wir aber aufs Neue und sehr be-
merklidi an die soziale Grenze. Und fragen wir uns, von
Verzichten redend, wie diese überhaupt möglich sind, so
stellen wir eine sehr sonderbare und zunächst sehr erfreuliche
Tatsache fest. Es ist wunderbar leicht, Kinder und Jugend¬
liche noch zu beeinflussen und die erstaunlichsten Ver¬
änderungen an ihnen zu erreichen. Selbst tief verwahrloste,
verbrecherische und verwilderte Kinder wandeln sidi in
wenigen Monaten von Grund auf. Man muß sie nur ihrem
Milieu entreißen, sie in eine wohlgefügte Kindergemeinschaft
einreihen, in ihnen durdi geduldiges Liebe-Erweisen Gegen¬
liebe wecken und sie durch konsequentes Versagen, das ihren
primitiven, so erwachenden Liebeszielen auferlegt wird, nötigen,
sich mit dem Lehrer, den Kameraden, der Gemeinsdiaft zu
identifizieren. Pestalozzi hat all das in Neuhof und Stanz
ohne Bewußtheit und ohne Reflexion getan. Uns hat Ereud
gelehrt, solche Umwandlung der Kinder zu verstehen. Und
so könnten wir gegen die Gefahr gesichert sein, der ein
Pestalozzi nodi erlag. Er sah die Wirkungen, er erlebte
die „Liebeskraft“, die ihr Motor war; er erkannte sie
sogar als wesentlichen Faktor aller Erziehung. Aber er
ließ sich von den Niederer und Schmidt verleiten, die
Akzente zu verschieben, und der Methode immer mehr,
immer zentraler, immer monomanischer und querer Schuld
und Verdienst zuzuschreiben; sie zum Zentrum eines
Systems zu machen, das keinen anderen Sinn hat, als den,
die Liebestriebe des Erziehers und der Kinder, wenn sie
162
schon nicht verdrängt werden können, so doch theoretisch zu
entwerten. Um diesen Preis gewann er die Zustimmung
seines Zeitalters vom Kaiser der Russen bis zum trockenen
Pastor von X-wyl. Beweglich genug hat er als Greis seine
Irrtümer beklagt, hier aber sogar noch das Wesentlidie
hinter dem Zufälligen verbergend. Wir könnten von ihm
lernen; die Psychoanalyse zeigt uns besser, als er selbst es
wußte, was. — Was von den verwahrlosten Kindern gilt, trifft
die in der Familie krank, schlimm, unerziehbar, unerfreulich,
besorgniserregend gewordenen nicht minder. Wie viele von
ihnen blühen auf, so wie sie dem Bannkreis der Ödipus¬
situation entflohen sind. Wie leicht sind ihnen hier die
Verzichte. Angesichts dieser Bereitsdiaft zum Verzidit, dieser
weitgehenden leidit erreichbaren Wandelbarkeit, Erzieh-
barkeit des Kindes, in dem geeigneten Milieu wohl-
gemerkt, ist die eine große Möglichkeit der Erziehung
gegeben: die Organisierung des Kinderlebens in eigenen
Institutionen, die für eine überwältigende Mehrzahl
aller Kinder Entfaltung, Blüte, Harmonie bringt.
Eine Möglichkeit, die von sozialen Gegebenheiten gestattet
oder versagt wird. Und die in ihrer vielleicht verlockenden
Schönheit herabgesetzt ist durdi unsere Unwissenheit, ob
soldie Kinder, erwachsen, sidi in irgend etwas untersdieklen
werden von anderen Erwadisenen ihres Zeitalters. Dies
bleibt mehr als fraglich. Aber vielleidit ist diese Bereitsdiaft
zu Verzidit und Erziehung, von der wir hier spredien,
Anzeichen dafür, daß sie Erwerb früherer Menschen-
generationen ist, und wir viel moralischer auf die W eit
kommen als wir meinen, ln diesem Fall ist die Prognose
günstiger; es ist weniger fraglidi, ob der Erziehungserwerb
nicht vielleicht mit dem Er wachsen werden verschwindet, es
ist wahrsdicmlidier, daß er bestehen bleibt, wenn der Er¬
wachsende in eine Gesellsdiaft tritt, die den crfreulidien
163
11*
Typus Mensch, den Normmensdien, gebraudien kann und ihn
nidit zur Veränderung oder zum Untergang bestimmt, wie
zweifellos in u n serer Ordnung geschieht. In soldi idealer
Gesellschaft ist dann aber vielleicht völlig gleichgültig, wie
die Kinder aufwachsen, sie werden durdi Identifikation auf
alle Fälle Gerechte. Es ist kein Ausweg aus den Ambivalenzen
und Zweifeln. Der Wissenschafter schämt sich ihrer nicht;
er übertreibt sie, um sie in Zukunft, so hofft er, zu über¬
winden.
164
INHALTSVERZEICHNIS
I) Von der Pädagogik. 1
II) Voraussetzung und Funktion der Erziehung ... 46
III) Mittel, Wege, Müglidikeiten der Erziehung . • .116
Von Dr. Siegfried Bernfeld ist früher i
Buchform erschienen:
Die neue Jugend und die Frauen. Wien, Leipzig , ou _
D,1S ’ wII*Lta^ 92 ™ d Se ‘ ne Jugend - VlcH “ bi * «*l« Tausend
“tÄTÄ — — Versnd
r U Ä;"'^
Vom Gemeinschaftsleben der Jugend LT" Pa ' W ' ,92 ’'
(Quellenschriften zur seelischen r "i ÜLI*** Z “ r Jupendfors diung
Zürich l 922 . EnM *Iung, II). Leipzig, Wicn ,
Vom dichterischen Sdiaffcn der Jugend m„ „
forschung (Quellenschriften zur seellsdiLn r , ' zur Jugend-
Wien, Zürich 1924. L ”*’ddclung, ni). Leipzig,
Die Psychologie des Säuglings, wie» ,925.
Gesellschaft dir Graphisch
e Industrie, Wien, III*, Rüdengasse 11,
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien* VII. Aiulreasgassc 3
Dr. Siegfried Bernfeld
\ om Geineinschaftsleben der Jugend
Geheftet M. jo .—, Halbleinen 12 ,—
Dr. Siegfried Bernfeld
V om dichterischen Schaffen der Jugend
Geheftet M. 12 .—, Halbleinen 14 .—, Ganzleinen 15. _
Dr. Oskar Pfister
Zum Kampf um die Psychoanalyse
Geheftet JVI, 1 }.—, Halbleinen ij .—
August Aichhorn
Verwahrloste Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
Mit einem Geleitwort von Prof, Sigm. Freud
Geheftet M- 9 *— f Ganzleinen t 1 .—
Op. G. H* Gräber
Die Ambivalenz des Kindes
Geheftet M. j.jo, Halbleinen 5 .—, Halbleder 7.—
Vera Schmidt
Psychoanalytische Erziehung in Sowjetrußland
Geheftet M* i ,—
lagebuch eines halbwüchsigen Mädchens
Herausgegeben von Dr. Herrn ine J1 ug-Hellmuth
e 1 IV Papier, geh. M, 4 .—, Pappbd. $.—
auf holzfreiem Papier, Ganzleinen M. 9. —, Halbleder 12. _
Pädagogisdi-jugendpsydiologisdies Heft
Geheftet M. $ t ~ J
Verlangen Sic Prospekte über die Werke von
Sigm. Freud
(Gesamtausgabe und Einzelausgaben)
—
-
i
*